
Skandinavien ist das Land der Mitternachtssonne und der Polarnächte, in dem im Sommer die Sonne nicht untergeht und in der Zeit um die Wintersonnenwende der Himmel Tage bis Monate dunkel bleibt. So wie diese Lichtverhältnisse das Leben der Skandinavier ganz entscheidend prägen, so sehr spiegeln sich diese magischen Momente von Licht und Dunkel auch in der Literatur der skandinavischen Poeten und Erzählautoren wider.
Die beliebte Lesereihe „Mellrichstadt liest“, die in der neuen Saison eine literarische Europareise unternimmt, machte am vergangenen Sonntag Halt in Skandinavien, und das mit ganz unterschiedlichen Gedichten, Geschichten und Buchauszügen unter dem Titel „Skandinavien – Erzählungen von Licht und Dunkel“. Die Moderatoren Janette Fraas und Fred Rautenberg konnten dieses Mal keinen Gastleser begrüßen, umso mehr freuten sie sich über das enorme Interesse. Im Café Art der Kreisgalerie reichten erstmals sogar die Ersatzstühle nicht aus, so dass noch Garten-Mobiliar herangeschafft werden musste, damit die vielen Zuhörer Platz nehmen konnten.
Der Fokus des Lesenachmittags lag dieses Mal weniger auf den bekannten Schriftstellern Skandinaviens wie Astrid Lindgren, Hans Christian Andersen, Henning Mankell oder Stieg Larsson. Fraas und Rautenberg widmeten sich mehr den unbekannteren, wenn auch in ihren Heimatländern sehr erfolgreichen Autoren. Zum Beispiel dem norwegischen Gegenwartsautor Per Petterson. Janette Fraas präsentierte Auszüge aus zwei Erfolgsromanen Pettersons.
„Sehnsucht nach Sibirien“ ist die Geschichte eines Geschwisterpaares in Dänemark zur Zeit des Einmarsches der Deutschen. Bemerkenswert ist, dass der norwegische Autor darin in die Rolle einer Frau schlüpft und aus ihrer Sicht das Erlebnis erzählt, wie ihr rebellischer Bruder Jesper die Eindringlinge mit Kuhmist bewirft. Auch in seinem Roman „Pferde stehlen“ wird eine Liebesgeschichte mit historischen Ereignissen rund um die nationalsozialistische Besetzung Norwegens verknüpft. So komplex dieser Roman angelegt ist, so gelassen weiß Pettersson zu erzählen, wenn er dem scheinbar Nebensächlichen Bedeutsamkeit zukommen lässt. Auch kommt dem Unausgesprochenen eine große Rolle zu, was Pettersson mit vielen seiner skandinavischen Autorenkollegen gemeinsam hat.
„Und ewig singen die Wälder“ ist ein Film, der in den 50er Jahren in Deutschland hohen Bekanntheitsgrad erlangt hat. Weniger bekannt ist, dass der Film eine Romanvorlage hat, die der norwegische Schriftsteller Trygve Gulbranssen (1894-1962) geschrieben hat. Fred Rautenberg wählte einen Auszug aus diesem gleichnamigen Buch, dessen Handlung im 19. Jahrhundert in einer der einsamen Gegenden der norwegischen Wälder spielt. Der Protagonist Dag Björndal lernt Therese als Mädchen kennen und trifft sie erst nach vielen Jahren wieder. Dabei kommt einer Brosche, die Dag Therese einst geschenkt hat, eine wichtige Rolle zu. Therese schafft es, in Dags einsames Leben Licht zu bringen.
Der Schwede Tomas Tranströmer macht „Kunst um der Kunst willen“, wie Janette Fraas den Autor selbst zitierte. Für seine oft surreal anmutenden Gedichte, die er wie ein Musikstück komponiert, erhielt Tanströmer 2011 den Literaturnobelpreis. Seine Lyrik ist stark von der Landschaft seines Heimatlandes geprägt und erinnert die Moderatorin an Gottfried Benn. Fraas rezitierte ausdrucksvoll drei Gedichte Tanströmers: „Praeludium“ „Epilog“ und „C-Dur“.
Fast schon ist es Tradition, dass Fred Rautenberg sich für den Ausklang einige heitere Texte aussucht. Auch dieses Mal präsentierte er zwei amüsante Episoden aus dem Erstlingswerk des schwedischen Journalisten und Schriftstellers Jonas Jonasson, der mit dem Buch „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ gleich einen Volltreffer landete. Der Titel des Romans erscheint ebenso skurril wie die Geschichte selbst. Sie blickt in einer Retrospektive auf dieses lange Menschenleben zurück und bietet gleichzeitig eine humorvolle Geschichtsstunde über das 20. Jahrhundert. Die Hauptfigur Allan flieht vor seiner eigenen Feier zum 100. Geburtstag aus dem Altersheim. Heitere Episoden erzählen von Allans merkwürdigen Begegnungen während seiner Flucht.
Das Publikum belohnte die beiden Vorleser mit kräftigem Applaus. Die spannende Textauswahl, gegensätzlich wie das Licht und Dunkel Skandinaviens, ließ die doch recht stickige Luft im übervollen Café Art nahezu vergessen.
„Mellrichstadt liest“ wird seine literarische Reise durch Europa am 3. Februar fortsetzen. Dann geht es zu „Mütterchen Russland“. Beginn ist um 16 Uhr.