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Erfurt
Enthemmter Wahlkampf in Thüringen
Vor der Landtagswahl in Thüringen ist offen, wer das Land künftig regiert. Überschattet wird der Wahlkampf von Morddrohungen und Übergriffen.
Bodo Ramelow (Die Linke), Ministerpräsident von Thüringen und Spitzenkandidat der Thüringer Linken, stellte auf dem Erfurter Anger der Öffentlichkeit die Kampagne der Partei zur Landtagswahl vor.
Foto: Martin Schutt/dpa | Bodo Ramelow (Die Linke), Ministerpräsident von Thüringen und Spitzenkandidat der Thüringer Linken, stellte auf dem Erfurter Anger der Öffentlichkeit die Kampagne der Partei zur Landtagswahl vor.
Eike Kellermann
 |  aktualisiert: 28.10.2019 02:11 Uhr

Herausforderungen gibt es in Thüringen, wo am Sonntag gewählt wird, genug. Der Unterrichtsausfall ist hoch, in den nächsten Jahren werden viele neue Lehrer an den Schulen gebraucht, ebenso Erzieher in den Kindergärten. Die Wälder müssen nach Trockenheit und Borkenkäfer-Befall aufgeforstet, Schulen und Verwaltung digitalisiert, die Arbeitsplätze bei den wankenden Auto-Zulieferern gesichert und der ländliche Bereich an schnelles Internet angeschlossen werden.

Bei der Wahl vor fünf Jahren beherrschte die Gebietsreform den Wahlkampf. Dieses Mal zündet kein Thema so richtig. Die rot-rot-grüne Koalition unter Bodo Ramelow, Deutschlands einzigem Ministerpräsidenten von der Linkspartei, wirbt mit ihrer Bilanz für eine zweite Amtszeit. So hat sie zwei Kindergarten-Jahre beitragsfrei gestellt, was Eltern durchschnittlich um 3000 Euro entlastet. Sie hat die Straßenausbaubeiträge abgeschafft, ein Azubi-Ticket zur kostenlosen Benutzung von Bus und Bahn eingeführt und auch noch eine Milliarde Euro Schulden getilgt. Die Gebietsreform wurde nach Protesten beerdigt.

Als Landesvater beliebt

Ramelow ist das Zugpferd im Wahlkampf. Ein Plakat zeigt ihn, wie er auf einen von Wald umgebenen See guckt. „Was ein Mensch braucht. Respekt, Wohnung, gute Arbeit, Rente, Sicherheit, Natur, Solidarität, Zeit“, steht darauf. Ramelow ist in seiner Rolle als Landesvater angekommen. Er herrscht zwar auch mal einen Bürger an, wenn der ihm missliebig kommt. Seiner Beliebtheit, die bei mehr als 60 Prozent liegt, schadet das nicht. Eckig, aber authentisch. „So iss´er halt, der Bodo“, heißt es dann.

Das Wahlplakat mag idyllisch wirken. Der Wahlkampf ist es nicht. Morddrohungen und Übergriffe häufen sich. So bekam CDU-Spitzenkandidat Mike Mohring eine Postkarte mit dem Inhalt, er sei „die Nummer zwei, die demnächst einen Kopfschuß von uns erhält“. Der Absender nahm offenkundig Bezug auf den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU).

Attacken auf Politiker

Auch Grünen-Bundesvorsitzender Robert Habeck wurde vor Wahlkampf-Auftritten bedroht. Der Staatsschutz ermittelt gegen einen 27-Jährigen, der zu „schweren Straftaten“ aufgerufen habe. In Ostthüringen wurde die Wohnung eines 41-Jährigen aus der rechten Szene wegen des Verdachts auf illegalen Waffenbesitz durchsucht. Der Zugriff erfolgte vor einem Wahlkampfauftritt von Ramelow. Grünen-Spitzenkandidat Dirk Adams wurde ebenfalls attackiert. AfD-Spitzenkandidat Björn Höcke, Aushängeschild des Rechtsaußen-Flügels, steht seit längerem unter Polizeischutz.

Damit nicht genug. Ein Lkw, auf dem die AfD Technik für ihre Veranstaltungen transportierte, ging in Flammen auf. Die Polizei ermittelt wegen Brandstiftung. An das Privathaus von FDP-Spitzenkandidat Thomas Kemmerich schrieben Unbekannte mit roter Farbe: „Wer die AfD unterstützt, der ist unser Feind“. Wahlplakate von Innenminister Georg Maier (SPD), der gegen Rechts- wie Linksextremismus Stellung bezieht, wurden mit Hakenkreuz und SS-Zeichen beschmiert.

Polarisierung nimmt zu

Zugleich hat die Polarisierung zugenommen. Giftete bisher vor allem die AfD gegen die „Altparteien“, ließ sich die Linke für die Wiederwahl von Ramelow den Spruch „Bodo oder Barbarei“ einfallen. Für die Grünen sind AfD-Leute nicht nur politische Gegner, sondern „Feinde der Demokratie“. Die Absurd-Partei „Die Partei“ hängte in Erfurt Wahlplakate auf mit dem Spruch: „Mohring will mit Höcke bumsen“. Eine Anspielung auf eine Zusammenarbeit der CDU mit der AfD, die Mohring aber ebenso ausgeschlossen hat wie ein Bündnis mit der Linken.

Der Linken könnte bei der Wahl am Sonntag ein Effekt zugute kommen, der sich schon in Sachsen und Brandenburg zeigte. Dort hätten sich viele Wähler taktisch verhalten, sagt Hermann Binkert, Chef des Erfurter Umfrage-Instituts Insa. Sie hätten die Partei des jeweiligen Ministerpräsidenten gewählt, damit die AfD nicht auf Platz 1 komme.

In Thüringen würde das Ramelow helfen. Tatsächlich ist seine Linke in den Umfragen mit um die 28 Prozent inzwischen stärkste Kraft. CDU und AfD sind mit um die 24 Prozent ungefähr gleichauf. SPD und Grüne liegen bei um die acht Prozent. Die FDP kommt in den Umfragen auf vier bis fünf Prozent und muss um die Rückkehr in den Landtag bangen.

Mit der Landesregierung zufrieden

Laut einer ARD-Umfrage aus der vorigen Woche sind 58 Prozent der Thüringer mit der rot-rot-grünen Landesregierung zufrieden. Eine Wechselstimmung gibt es also nicht, wie auch der schwache CDU-Wert zeigt. Fast schon verzweifelt kündigte Mohring an, bei einer Regierungsübernahme sämtliche seit 1991 gezahlten Straßenausbaubeiträge zurückerstatten zu wollen. Geschätzte Kosten: 600 Millionen Euro.

Allerdings hat Rot-Rot-Grün in den Umfragen keine Mehrheit. Die Regierungsbildung könnte daher schwierig werden. Möglich ist eine Fortsetzung der bisherigen Koalition oder ein von der CDU angestrebtes Bündnis mit SPD, Grünen und FDP. Ein Vierer-Bündnis gab es in Deutschland bisher überhaupt nur einmal, in Bayern in den 1950er Jahren. Falls es weder für Rot-Rot-Grün noch für Schwarz-Rot-Grün-Gelb reicht, müsste ganz neu nachgedacht werden: Beispielsweise über ein Bündnis von Linke und CDU oder über eine Minderheitsregierung. All das macht diese Landtagswahl so spannend.

 
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