Wer hätte gedacht, dass es lange vor dem Erstarken der Arbeiterbewegung streikende Proletarier als Figuren eines Opernwerks gab? Bereits 1848/49 zum Leben erweckt von Albert Lortzing - neben Carl Maria von Weber wohl der deutscheste aller deutschen Opernkomponisten der Frühromantik.
Kein Wunder also, dass seine Freiheits-Oper „Regina“ unverfälscht erst 150 Jahre nach ihrem Entstehen auf die Bühne kam, 1998 in Gelsenkirchen, inszeniert von Peter Konwitschny. Und nun ist das selten gespielte Werk in der Originalfassung im Meininger Theater zu bestaunen, in Szene gesetzt von Lars Wernecke.
Tatsächlich steht im anfangs historisch-naturalistischen Bühnen- und Kostümbild von Dirk Immich die Arbeiterschaft unter Zahnrädern und Kranhaken in der Werkhalle einer Manufaktur. Sie verweigert dem erwarteten Unternehmer Simon (Christoph Stegemann, alternierend mit Ernst Garstenauer) jedwede Jubelarie und fordert mehr Geld, mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit.
Welch Ungezogenheit in den Jahrzehnten der Restauration! Lortzing komponierte das Werk und verfasste das Libretto unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse im Jahreslauf 1848, an dessen Ende die Hinrichtung seines Freundes, des Freiheitskämpfers Robert Blum stand. Noch während in Meiningen die Ouvertüre zum ersten Akt ertönt, werden die Zuschauer Zeuge seines Todes.
Bessere Zeiten
„Regina wartet auf bessere Zeiten“, kommentierte Lortzing die Nichtbeachtung seines Werks. Doch so wahrhaftig besser sind die Zeiten für seine Oper bis in die Gegenwart nicht geworden. Aus heutiger Sicht ist die Handlung zwar visionär, weil sich Lortzing leidenschaftlich für die Schwachen einsetzt und die Kämpfe zwischen gemäßigten, revolutionären und anarchistischen Kräften der Arbeiterbewegung vorausahnt. Bis hin zur Bedrohung durch terroristische Gruppen. Andererseits aber pflegt Lortzing – Kind seiner Verhältnisse – ein gefährlich romantisches Bild von Frieden, Eintracht und kleinbürgerlicher Harmonie.
Wird die Regie diese dem Stück innewohnenden Keime herausarbeiten oder wird sie die Geschichte unkommentiert abbilden? Eines ist sicher: Mehr als bei anderen Opern muss man hier die Leistungen der Sangeskünstler von den Botschaften der Geschichte trennen.
Am Anfang scheint es so, als würde der Regisseur dem Werk einfach nur zu seinem Recht verhelfen, wahrgenommen zu werden. Die Ironie bleibt stückintern und harmlos – das Techtelmechtel zwischen dem Vorarbeiter Kilian (Stan Meus) und dem Dienstmädchen Beate (Carolina Krogius) etwa. Oder Kilians Coup, die ganze Freischärlerbande (die dem Wirtshaus im Spessart entsprungen scheint) mit Wein einzuschläfern und nebenbei, samt Chören, mit „Zum Teufel mit den edlen Herr'n“ den einzigen Ohrwurm der Oper anzustimmen. Ansonsten bleibt die Lage ernst: Der junge Geschäftsführer Richard (Daniel Szeili) vermittelt. Fabrikbesitzer Simon darf bejubelt werden und dessen Töchterchen Regina (Anne Ellersiek) ist von Richard so entzückt, dass sich beide unsterblich ineinander verlieben.
Furchtbares bricht sich allerdings Bahn durch die fanatische Eifersucht des Werkmeisters Stefan (Matthias Vieweg, alternierend mit Marián Krejeík), dessen Liebe Regina verschmäht. Simon entführt die holde Schöne. Zum Showdown kommt es schließlich im Pulverturm, wo er sich mit seinem Opfer verschanzt.
Das alles wird mit teils ungewohnt düsteren Klängen, mit Pathos und mit Tönen, die von Lortzings Erfolgsopern herüberzuwehen scheinen, musikalisch untermalt. Dabei geht die Meininger Hofkapelle unter Lancelot Fuhry selbstsicher und virtuos ans Werk. Wer aber die ungebrochene Passion italienischer Opern des 19. Jahrhunderts im Ohr hat, den wird es bei „Regina“ nicht vom Sitz reißen, trotz vorzüglicher und stimmlich verständlicher Charakterinterpretation, gerade von Anne Ellersiek (Sopran) und Daniel Szeili (Tenor), Christoph Stegemann (Bass) und Matthias Vieweg (Bariton). Immer wieder gibt es Sprechpartien, die den musikalisch-dramaturgischen Fluss unterbrechen.
Viel Volk
Das Bunteste in der Handlung sind die Auftritte von Chor und Extrachor unter Leitung von Matthias Köhler. So viel Volk war schon lange nicht mehr. Doch auch hier vollzieht sich mit wachsendem Wir-Gefühl eine Wandlung. Schritte und Kleidung sind bereits konformer, als das Volk vor Spitzweg-Kulisse übers Feld schreitet und nebenbei ein paar adlige Strohpuppen an schwarzrotgoldenen Bändern erhängt.
Dann kommt der Bruch. Und Wernecke setzt ihn augenfällig in Szene. Regina hat den Peiniger erschossen und das Publikum freut sich auf die Wiedervereinigung mit Richard. Die kommt denn auch, dauert ein paar Sekunden und geht dann unvermittelt über in eine wahre Orgie des Gleichschritts mit martialischem Kollektivgesang: „Oh, süßer Tod fürs Vaterland, oh, schöner Tod der Ehre.“ Keine Zeit mehr für Liebesgeflüster. Das einig Vaterland ruft. Man sieht im Geiste schon die Soldaten mit Hurra in den Krieg marschieren. Da muss der im Hintergrund erscheinende Kopf der Freiheitsgöttin bittere schwarzbraune Tränen weinen.
So visionär konnte Lortzing in seiner Zeit nicht sein, um zu ahnen, welch seltsames Gebräu da köchelte, aus Ängsten, aus Wut, Hass, Rachegelüsten, aus nationalem Eifer und der Sehnsucht nach starken Vereinfachern. Da sind wir ja inzwischen klüger. Mehr oder weniger.
Nächste Vorstellungen: 3. April, 19 Uhr, 1. Mai, 15 Uhr, 21. und 28. Mai, jeweils 19.30 Uhr. Karten unter Tel. (0 36 93) 451 222. www.das-meininger-theater.de