Das Jahr 1941. Der Krieg tobte schon über zwei Jahre in Europa. Das heutige Tschechien, die Slowakei, Polen, die Niederlande, Belgien und ein Teil Frankreichs waren von deutschen Truppen besetzt. Hitler rollte mit seiner Kriegsmaschinerie nach Süden – es kam der Balkankrieg. Unterstützt vom italienischen Diktator Mussolini, ging der Krieg nach Jugoslawien, Griechenland, auf die Insel Kreta und bis nach Nordafrika.
Nachdem deutsche Fallschirmjäger im Juni die Insel Kreta erobert hatten, wollten sie die Engländer ebenfalls mit Fallschirmjägern zurückerobern. Bei dieser Aktion setzten sie hauptsächlich Australier und Neuseeländer ein, die sich in ihrer Heimat freiwillig gemeldet hatten. John Boylan war einer der freiwilligen Australier, die auf Kreta landen sollten. Die Deutschen, welche die Insel besetzt hielten, waren darauf vorbereitet und nahmen die Australier sofort gefangen, ohne dass diese einen Schuss abgeben konnten. Sehr viele von ihnen wurden in der Luft abgeschossen.
So war John Boylan in deutsche Kriegsgefangenschaft gekommen, und bis die Australier nach Deutschland kamen, mussten sie noch viele Strapazen mitmachen. Vor allem bekamen sie wenig zu essen.
Eines Tages, im Oktober, hieß es in Großeibstadt, dass ein Transport kriegsgefangener Australier komme. Am Großeibstädter Bahnhof kamen sie an und einer war dabei, der alle überragte. Er war sehr groß, fast zwei Meter. Er hatte eine große runde Tellermütze mit einer roten Quaste auf und war deshalb recht auffallend. Die Männer wurden in die sogenannte „Baracke“ geführt, das war der Tanzsaal des Gasthauses Grüb, wo vorher die belgischen Kriegsgefangenen untergebracht waren. Dort wurden die Gefangenen „verteilt“, um bei den Bauern zu arbeiten. Max Grüb, Gastwirt in Großeibstadt, bekam auch einen der Gefangenen zugewiesen.
John Roy Boylan war damals 22 Jahre alt, kam aus Sydney und war Bürokaufmann. Er hatte bei seinem Eintreffen in Großeibstadt keine Schuhe und Strümpfe, nur Fußlappen, aber er hatte Schuhgröße 49 und zu kaufen gab es nichts. John Boylan hatte keine Ahnung von der Landwirtschaft. Er musste alles lernen: Holz hacken, Kühe füttern, melken, Futter schneiden und alle Arbeiten auf dem Feld. Außerdem konnte er kein Wort Deutsch.
Mit einem Trick in die Kirche
Die ganze Familie Grüb hatte John sehr gerne. Er war wie ein großer Bruder zu den Kindern und Klara und Max Grüb behandelten ihn wie einen Sohn. John Boylan war sehr gut katholisch, seine Vorfahren stammten aus Irland. Er betete sehr viel, und wenn die Kinder mit ihm den Rosenkranz beteten, bekamen sie ein Stück Schokolade – inzwischen bekamen die Australier Pakete von daheim. Da der Kirchgang für die australischen Gefangenen verboten war, musste getrickst werden. So ließ man John an hohen Feiertagen sehr früh aus der Baracke und er ging auf die oberste Empore in der Kirche, wo ihn niemand sah.
Als im April 1942 die kleine Elisabeth Grüb, verheiratete Lang, geboren wurde, war das für John wie ein kleines Wunder, denn er hatte noch nie so ein kleines Baby gesehen. Er nannte sie „Abeth“ und gab alle seine Kondensmilch, die er in seinen Paketen geschickt bekam, her. Damit wurde die Kleine ernährt.
Als sich dann der Krieg dem Ende näherte, es war Ostern 1945 und der Einmarsch der Amerikaner stand unmittelbar bevor, wurden die Australier Richtung Nürnberg in Marsch gesetzt. In der Nacht vorher aber ließen sich vier Gefangene, die im Tanzsaal der Grübschen Wirtschaft eingeschlossen waren, mit zusammengeknoteten Betttüchern durch ein Fenster herunter und versteckten sich in einer Scheune. Klara und Max Grüb sahen das, meldeten es aber nicht, sonst wären die Gefangenen erschossen worden. John wollte auch mitmachen, aber Klara Grüb bat ihn, es nicht zu tun, denn es war ein großes Risiko. So verabschiedeten sich die Grübs schweren Herzens von „ihrem“ John.
Als am Weißen Sonntag 1945 die amerikanischen Panzer in Großeibstadt einrollten, saßen die vier geflüchteten Australier darauf. Sie hatten den US-Soldaten zu verstehen gegeben, dass die Leute hier keine Nazis seien und sie gut behandelt hatten. So fiel kein Schuss und das Dorf blieb verschont.
1966 machte John Boylan dann eine Europa-Reise und kam auch nach Großeibstadt. Er war inzwischen Direktor des „St. Pauls Missionswerk“ geworden und dienstlich unterwegs. Es war ein freudiges Wiedersehen – Max Grüb lebte damals noch, starb aber kurz danach. John hatte inzwischen geheiratet. Seine Frau hieß Eileen und sie hatten drei Söhne und eine Tochter. Sie lebten in Sydney, wo sie ein eigenes Haus hatten. Anfang der 70er Jahre, als John beruflich nach London reiste, machte er noch einmal einen kurzen Abstecher nach Großeibstadt.
Am Maria-Himmelfahrtstag 1978 bekamen die Grübs in Großeibstadt noch einmal überraschend Besuch von Johns Tochter Maria und seinem Neffen Peter Huntington, die sich auf einer Reise quer durch Europa befanden. Es war schon recht herbstlich und kühl und Klara Grüb kaufte für Maria warme Unterwäsche und Strumpfhosen.
John Boylan starb 1979
1979 plante John Boylan wieder eine Reise nach Großeibstadt, nun zusammen mit seiner Frau. Außerdem sollte er in Rom bei Papst Johannes Paul II. eine Audienz erhalten. Daraus wurde jedoch nichts, denn John Boylan wurde krank und starb am 8. Oktober 1979 mit 61 Jahren an Krebs. In Großeibstadt war man über diese sehr traurige Nachricht sehr betrübt und ließ eine Messe für den Verstorbenen feiern.
Im Dezember 2012 ergab sich für Johns Tochter Maria erneut die Möglichkeit, nach Europa zu reisen und Großeibstadt zu besuchen. Am 29. Dezember gab es das große Familientreffen. Wo sonst, als im Gasthaus Grüb, traf man sich zu Kaffee und Kuchen, um die vielen Erinnerungen auszutauschen.