Zeitzeugen, die noch von den Straflagern innerhalb des Gulag, des russischen Bestrafungssystems berichten können, gibt es kaum noch. Günther Rehbein ist einer der wenigen Überlebenden, die davon berichten können. Der 80-Jährige aus Gera war zu Gast im Gymnasium Bad Königshofen, wo er den Schülern der neunten Klassen von seinem Leben erzählte.
Sowjetische Straflager sind wieder ins Gespräch gekommen, seit ein Mitglied von „Pussy Riot”, die zu zwei Jahren in einer Besserungskolonie in Parzda verurteilte Nadeschda Tolokonnikowa, sich über die dortigen Bedingungen beklagt und in den Hungerstreik getreten war. 16 Stunden Arbeit pro Tag, vier Stunden Schlaf pro Nacht, Schläge und Todesdrohungen – das erinnert an die Zustände in den Straflagern, Gefängnissen und Verbannungsorten zur Zeit Stalins, wie der Leiter des Gymnasiums, Wolfgang Klose, in seiner Begrüßung bemerkte.
Eine spannende Lebensgeschichte erzählte der Thüringer Gast, der auch einen kurzen Film von den Originalschauplätzen mitgebracht hatte. Als Neunzehnjähriger wurde er 1952 von der Stasi verhaftet und dem russischen Geheimdienst übergeben. Die Hoffnung, der Irrtum werde sich bald aufklären und seine Unschuld festgestellt werden, schwand in kurzer Zeit, denn die Verhörmethoden mit Schlägen bis zur Bewusstlosigkeit ließen keinen Zweifel daran, dass er eigentlich schon verurteilt war. Vorwurf: Spionage und antisozialistische Hetze. In Berlin-Karlshorst, im Volksmund „Klein-Moskau“ genannt, gingen die Verhöre weiter.
Zu den Folterungen, die den Tod als Erlösung erscheinen ließen, kam die Sorge um die Familie, seine schwangere Frau und ein kleines Kind, die nicht wussten, wo er geblieben war, berichtete Rehbein. Er weigerte sich zunächst, die auf russisch aufgeschriebenen Verhörprotokolle, die er nicht verstand, zu unterschreiben, gab aber schließlich auf, weil mit der Verhaftung seiner Familie gedroht wurde. „25 Jahre Workuta“ lautete das Urteil. Von Chemnitz aus wurde er mit anderen Leidensgenossen als russische Soldaten verkleidet nach Polen transportiert, dann ging es weiter bis nach Workuta, nördlich des Polarkreises, wo neun Monate Winter herrscht.
Von einem „würdelosen Dahinvegetieren“ berichtete der Zeitzeuge, von der Arbeit in 60 Zentimeter hohen Kohleflözen, Kälte bis minus 50 Grad und der Willkür der Aufseher, meistens „Kriminelle“, die sich von den „Politischen“ unterschieden und man hatte den Eindruck, dass er mit Rücksicht auf die Jugendlichen nicht alles erwähnte. Was ihn aufrecht hielt, war die Kameradschaft unter den Deutschen.
Die kleine Gruppe machte sich gegenseitig Mut. Als Stalin 1953 starb, hoffte man auf eine Amnestie, die aber für politische Häftlinge nicht ausgesprochen wurde. Durch einen Streik wollten die Gefangenen eine Überprüfung ihrer Unrechtsurteile erzwingen und tatsächlich kam eine Delegation aus Moskau, aber der Streik wurde brutal niedergeschlagen. Viele Häftlinge wurden erschossen oder starben an den Verletzungen.
Erst 1955, nach zähen Verhandlungen Adenauers mit Chruschtschow, wurden die deutschen politischen Gefangenen entlassen. Zurück in Gera musste Günther Rehbein jedoch registrieren, dass seine Frau einen neuen Mann hatte und Sohn und Tochter zu „staatseigenen Kindern“ geworden waren. Sein weiteres Leben in der DDR war schwierig, denn er durfte nicht in seinem Beruf, Maler und Raumgestalter, arbeiten. Der Gipfel der Frechheit: Die Stasi wollte ihn als Spitzel anwerben und ihn im kirchlichen Bereich einsetzen.
Glücklos war auch der weitere Lebensweg des Thüringers, denn er traf zufällig den Stasi-Offizier, der ihn damals verhaftet hatte und riss diesem sein Parteiabzeichen vom Revers. Das brachte ihm vier Jahre im DDR-Gefängnis in Bauzen ein, worüber er auch in seinem Buch geschrieben hat. Erst die Wende brachte mehr Licht in sein Leben.
Wie Rehbein berichtete, war er auch bei Demonstrationen in Leipzig dabei und hatte schon mit erneuter Verhaftung gerechnet, aber dank Gorbatschow gab es für einen Großeinsatz gegen die Demonstranten keine russische Unterstützung. Eine positive Folge der Öffnung war ein Kennenlernen seiner Kinder, die im Glauben aufgezogen wurden, ihr Vater sei ein Verbrecher gewesen. 1995 wurde Rehbein rehabilitiert. „Wir dürfen nie vergessen, was in der nationalsozialistischen Diktatur geschehen ist, aber die Diktatur im Osten war nicht viel besser“, sagte Rehbein.