Ein wahrer Wirbelwind auf der Bühne – das ist die Schauspielerin Larissa Aimée Breidbach. Das ungestüme Wesen ihres Rollencharakters hat zur Folge, dass man ihr einfach glauben muss, was sie erzählt. Obwohl – doch davon später. Die Meininger Theaterfassung des 2020 erschienenen und vielbeachteten autofiktionalen Romans der thüringischen Autorin Olivia Wenzel in den Kammerspielen hatte Premiere: "1000 Serpentinen Angst". Nur eine Woche nach der Uraufführung einer anderen Romanadaption am Berliner Maxim-Gorki-Theater.
In der Geschichte geht es um die Identitätskrisen einer jungen, dunkelhäutigen, namenlosen Frau – deutsche Mutter, Vater Schwarzafrikaner, ehemaliger Vertragsarbeiter, der sich nicht um die Familie kümmerte. Ihre Lebensstationen: Kindheit in der DDR, später im Westen Deutschlands, dann in New York. Und nun lebt sie wieder in der thüringischen Provinz.
Regisseurin Pia Richter selbst hat den Roman für ihre Meininger Inszenierung bearbeitet. Dazu schuf Ausstatterin Julia Nussbaumer ein drehbares Bühnenbild, das dem Publikum keine Wahl lässt: Es muss sich auf die Erzählerin einlassen, die da nachts an einem verlorenen Ort steht – an einer Bushaltestelle mit Wartehäuschen und Kiosk, mitten im Nirgendwo. Die Frau erzählt den Zuschauern in den dunklen Raum hinein ihre Geschichte. Dabei wird sie immer wieder von einem vierköpfigen Chor von Furien malträtiert, die, mit maskenhaft verzogenen Gesichtern, Bürger sein könnten, die sie mit inquisitorischen Fragen piesacken. Gelegentlich warten sie auch mit versöhnlichen Tönen auf, die so klingen, als spiegelten sie nur Vertraulichkeit vor, um dieses unangepasste Wesen mit dem beschränkten Horizont der eigenen Normalität zu erfassen. Blitzartige Rückblenden auf Szenen mit ihrer einst besten Freundin (Carmen Kirschner), mit ihrem Bruder, der sich das Leben genommen hat (Marcus Chiwaeze), ihrer DDR-gläubigen Großmutter (Christine Zart), ihrer psychisch kranken Mutter (Anja Lenßen) und einem vertrauten Freund (Yannick Fischer) unterbrechen den nächtlichen Monolog immer wieder.
Facetten der Angst
Langsam erschließt sich den Zuschauern und Zuschauerinnen, was sich hinter dem Titel "1000 Serpentinen Angst" verbirgt: Die kaum mehr fassbaren, miteinander verstrickten Facetten der Angst, die sich in der Suche der jungen Frau nach ihrer eigenen Identität anhäuften – mit jeder Nuance des Selbstzweifels und der Selbstgefährdung, mit jeder Ausgrenzung durch diejenigen, die vorgeben zu wissen, was Normalität ist. Das Unbedingte der Sehnsucht, mit der sich die junge Frau ans Leben klammert, das Unerklärliche, das die "normalen" Anderen dazu führt, im Opfer selbst die Ursache des Leids zu suchen und nicht in der Ausgrenzung des Fremden – das alles findet an diesem einsamen Abend an diesem gottverlassenen Ort zusammen und wird vom Ensemble leidenschaftlich gemimt und sogar mit einem leicht optimistischen Schluss versehen: Was wäre, wenn das Fremde, das Andere, einfach Teil der Normalität würde?
Trotzdem finden die Worte manchmal nur mit Mühe den Weg in den Verstand derer, an die sie sich richten. Zuviel Wahrheit des Buches, zu wenig Wahrheit des Theaters. Denn etwas fehlt in der Dramaturgie der Geschichte: Gedankliches Innehalten, damit das Publikum folgen kann. Lesend mag man den Strom der Worte verstehen, weil man seine persönliche Stopptaste drückt, bevor man den Faden verliert. Im Theater ist das anders. Man ist dem Geschehen ausgeliefert und schaltet bestenfalls in seinen gedanklichen Pausenmodus, wenn einem die Wortlast eines erzählten Lebens in hundert Minuten zu überwältigen droht. Trotzdem: es ist eine beeindruckende Begegnung mit dem Anderen, vor allem wegen der Intensität des Spiels von Larissa Aimée Breidbach.
Nächste Vorstellungen: 2. Oktober, 16. Oktober, 6. November, 19. November, jeweils 19:30 Uhr. Kartentelefon: 03693-451 222. www.staatstheater-meiningen.de