
Die Weihnachtszeit ist für die Kinder eine glückliche Zeit. Lichter erstrahlen in dunkler Nacht, ein Zauber erfüllt die Straßen und Gassen. Für die Erwachsenen ist es eine Zeit, die trotz geschäftigen Treibens auffordert, Bilanz zu ziehen und das Gespür auf das Wesentliche zu richten, was dem Auge so oft verborgen bleibt.
Ich erinnere mich noch gut an die langen Abende, in denen mein Vater von den Rauhnächten sprach, den zwölf heiligen Nächten. Es ist die Zeit zwischen Weihnachten und Dreikönig. Es sind ganz besondere Nächte. Eine geheimnisvolle Zeit, in der die Natur stillzustehen scheint. Wir saßen in der gemütlichen Küche, während das Feuer im Ofen prasselte, erzählte mein Vater Sagen und Märchen aus dem Bayerwald.
Auf keinen Fall durfte in den Heiligen Nächten gestritten werden und schon gar nicht Unordnung herrschen. Seine Geschichten von der schaurigen Frau Percht und dem wilden Jäger jagten mir Gänsehaut über den Rücken.
Nicht immer für Kinderohren geeignet
Wenn es gar so dramatisch wurde, gebot Mutter Einhalt. Damals störte man sich weniger daran, dass Geschichten womöglich nicht für Kinderohren geeignet waren – im Gegenteil. Auch Kinder sollten erfahren, dass Licht und Dunkel, Gut und Böse, Geburt und Tod zum Leben gehören. Mit dieser Wahrheit kamen wir Kinder oft besser zurecht als manche Erwachsene.
Zum Abschluss holte Papa dann seine Mundharmonika und spielte eine Melodie, die ich noch heute im Ohr habe. Das schwache Licht der Kerzen des Adventskranzes ließ Schatten an der Wand erscheinen und unterstrich optisch die Geschehnisse, die Vater eindrucksvoll schilderte.
Es war so gemütlich und alles so vertraut. Nichts konnte uns aus dem Land der Märchen vertreiben, so dachte ich, bis zu jenem Abend, an dem meine Mutter einen Gast nach Hause brachte. Zu unserer Überraschung trat Onkel Karl ein. Sie hatte ihn auf dem Heimweg in der Stadt aufgegabelt. Er war traurig durch die Straßen gelaufen und hatte nicht gewusst, wohin.
Ein unerwarteter Besuch
Onkel Karl war der Onkel meiner Mutter und seit einigen Wochen Witwer. Seine Betty und er waren unzertrennlich, Kinder hatten sie keine. Onkelchen litt sehr unter diesem Verlust. Nicht, dass ich etwas gegen diesen Besuch hatte, doch mit einem Mal bekam unsere sonst so urgemütliche Abendstunde einen völlig anderen Charakter. Wir hörten uns seine Geschichte an, die hauptsächlich von dem Schmerz und um die Trauer seiner geliebten Betty handelte.
Nun ja, jeder wollte ihm etwas Gutes tun. Mama bot ihm ihre Hilfe an, wann immer es notwendig war und Papa war ihm ein guter Gesprächspartner. Was mich betraf, ich machte gute Miene zu diesem Spiel, aber nicht ohne einen gewissen Grollen im Bauch. Vorbei waren die Märchenstunden und die Lieder zum Advent bei Kerzenschein.
An diese Stelle traten Geschichten aus Onkelchens vergangenen Tage. Für mich war es langweilig. Wenn Erwachsene sich unterhielten, durften Kinder nicht dazwischen quatschen. So beschäftigte ich mich mit einem Buch. Doch mit einem Ohr folgte ich den Gesprächen am Tisch.
Eine Idee: Die Uhr vorstellen
Da vernahm ich doch, dass die Rede vom Heiligen Abend war. Es wurde davon gesprochen, dass Onkelchen in diesem Jahr Weihnachten bei uns feiern sollte. Das brachte mich in innere Unruhe. Nein, davon hielt ich nichts! Meine Laune wurde zusehends schlechter.
Zwar leuchtete mir ein, dass Onkelchen ganz furchtbar unter Einsamkeit litt, aber die Vorstellung, den ganzen Heiligen Abend Onkelchens immer gleiche Geschichten zu hören, war für mich unerträglich. Das Einzige, was hoffen ließ, war die Gewissheit, Onkelchen ging immer pünktlich um 20 Uhr nach Hause. Er pflegte bald schlafen zu gehen. Und dieser Gedanke beruhigte mich ein wenig.
Ich überlegte, wie ich zum Gelingen des Heiligen Abends beitragen könnte, dass es trotz Besuch und trauriger Stimmung noch ein schönes Fest werden sollte. Man müsste die Zeit vorrücken können, dass Onkelchen nicht so lange hier bei uns blieb.
Das Weihnachtsfest rückte näher und ich hatte noch keine Ahnung, wie das werden sollt. Am Morgen des 24. Dezembers war ich schon bald wach. Im Hause herrschte emsiges Treiben. Das Geschäft wurde um 7 Uhr geöffnet und Mama erledigte alles, was im Hause zu tun war.
Das schlechte Gewissen meldet sich
Vorsichtig fragte ich, wann Onkelchen kommen wird. Sie sagte: „So gegen 16 Uhr.“ In meinem Kopf begann ich zu rechnen: "17, 18, 19, 20 Uhr, vier Stunden, dann wäre es wieder richtig Weihnachten." Dazwischen würde ich in die Kindermette gehen und Weihnachten wäre gerettet.
Mir kam da so eine Idee. Wie wäre es denn, wenn ich die Uhren um eine Stunde vorstelle? Dann würde Onkelchen zwar wie immer um 20 Uhr gehen, aber es wäre ja erst 19 Uhr. Als Mama die Küche verlassen hatte, kletterte ich auf einen Stuhl und stellte die Küchenuhr eine Stunde vor.
Nun musste es mir noch gelingen, ins Wohnzimmer zu gelangen, was besonders schwierig war, es war abgeschlossen. Doch in einen unbemerkten Augenblick schnappte ich mir den Schlüssel und verschwand im Wohnzimmer. Oh da lagen die Geschenke und der Baum träumte einen seligen Traum. Ich aber hatte keine Zeit. In Windeseile stellte ich auch hier die gute, alte Uhr eine Stunde vor. Sie war Papas bestes Stück und jeden Tag zog er sie vorsichtig auf und lauschte ihrem feierlichen Klang.
So senkte sich der Heilige Abend langsam hernieder. Mutter drängte mich, es sei Zeit für die Kindermette. Ich wollte ihr schon widersprechen, doch dann fiel mir ein, die Uhr war ja schon weiter. Also ging ich los, zwar viel zu bald, aber das war es mir wert.
Es sollte alles anders kommen
Danach eilte ich nach Hause. Onkelchen saß schon am Tisch. Es gab, wie immer, Würstchen mit Kartoffelsalat und es war Weihnachten bei uns daheim. Diesmal aber war alles ganz anders. Die Türe öffnete sich. Wir sangen "Stille Nacht", und neben mir schluchzte herzzerreißend unser Onkelchen.
Das berührte mich so sehr, dass ich erschrocken auf die große Uhr schaute. Im selben Moment bereute ich meine Tat. Die Uhr zeigte 19.30 Uhr. "Da wird sich Onkelchen schon bald verabschieden", dachte ich. Er würde nach Hause gehen. Kälte und Einsamkeit würden ihn in der leeren Wohnung umfangen und er wird sich in den Schlaf weinen.
Das bedrückte mich schwer. Die Weihnachtsfreude stellte sich nicht richtig ein. Wie kam ich aus dieser Nummer? Ein Geschenk kam mir zu Hilfe. Ich bekam das Gesellschaftsspiel „Monopoli“. Wir alle spielten und Onkelchen war nicht zu bremsen. War das ein Spaß! Er kaufte und verkaufte Häuser, erwarb Straßen und Plätze, verwaltete die Kasse und hin und wieder verköstigte er ein "Schnäpsle".
Ich hörte ihn lachen und lernte eine Seite von ihm kennen, die mir fremd war. Plötzlich schaute er auf die Uhr: „Was, es ist schon 9 Uhr?“ Er holte seine Taschenuhr heraus und sagte: "Eure Uhr geht vor, ich bleibe heute noch.“ Auch Papa holte seine Taschenuhr heraus und schüttelte verwundert den Kopf: "Die Küchenuhr habe ich auch erst richtig gestellt. Haben die Rauhnächte ihre Hände im Spiel?"
Onkelchen lachte verschmitzt: "Wer weiß, wenn die Geister unterwegs sind?" Ich wusste die Lösung, aber schwieg. Onkelchen aber vergaß die Zeit und das Heimgehen. Mutter richtete ihm ein Bett auf der Couch direkt neben dem Christbaum in unserem warmen Wohnzimmer. Dort schlief er selig ein.
Diese Christnacht hat mir gezeigt, an Weihnachten sollte niemand einsam und alleine sein. Das wertvollste Geschenk ist, Zeit zu verschenken.