Wer sie erlebt hat, für den wird sie unvergesslich bleiben – diese magische Nacht vom 23. auf den 24. Dezember 1989. Stunden einer großen Freuden- und Dankesfeier in der Vorfreude auf ein Weihnachtsfest, das wahrlich ein historisches geworden ist. In einer Stimmung, die pure Freude, helle Begeisterung und tiefe Dankbarkeit verströmte. Auf der Schanz bei Eußenhausen, an der bayerisch-thüringischen Landesgrenze, ist vor 30 Jahren an Heiligabend „zusammengewachsen, was zusammengehört“. Mit tausendfacher Verbrüderung zwischen Bundes- und DDR-Bürgern auf engstem Raum im kleinen DDR-Grenzdorf Henneberg , als die Nacht sprichwörtlich zum Tag der grenzenlosen Freude gemacht wurde.
Just in dieser Nacht sind nämlich an der innerdeutschen Grenze die Schlagbäume für immer – auch wenn damals noch niemand daran glauben konnte – hochgedreht worden. Zur freien Fahrt, ohne Visapflicht und Zwangsumtausch, in die DDR ab null Uhr an Heiligabend. Am Grenzübergang Grenzübergang Eußenhausen/Meiningen freilich stellten die DDR-Behörden für dieses Ereignis die Zeiger der Uhr schon etwas vor. Am 23. Dezember, gegen 22.30 Uhr, war diese letzte Hürde deutsch-deutscher Begegnungen beiseite geräumt – ab sofort war der Eintritt frei!
Henneberger warteten mit Bier und Bratwüscht
Um diese Zeit tauchte ein Henneberger Bürger, quasi in der Kundschafter-Rolle, an der Grenzkontrollstelle Eußenhausen auf und verkündete: „Die Leute in Henneberg warten mit Bier und Bratwürscht, schon seit Stunden.“ Schließlich wollten sie sich mit einem großen Fest für den Empfang im Westen revanchieren. Der Mann, zu Fuß unterwegs, sichtete nach seiner Botschaft einen Kleinwagen mit zwei jungen Damen aus dem Westen, rief „Bald sind wir `ne Einheit“ und stieg als Anhalter über Grenzen hinweg zu.
Zur gleichen Zeit trug sich diese Szene direkt an der Demarkationslinie, der offiziellen Staatsgrenze zwischen Deutschland West und Deutschland Ost, zu. „Oskar, jetzt wird’s eng.“ Oskar Herbig, Bürgermeister aus Mellrichstadt, und Kurt Wiebel, Stadtoberhaupt aus Meiningen, genossen Seite an Seite, Arm in Arm, diese Nacht ohne Grenzen. Im Strom der feiernden, jauchzenden und jubilierenden Menschen marschierten sie auf die Kontrollstelle Ost des Grenzübergangs Eußenhausen/Meiningen zu: „Let’s go Ost!“ Zwei junge Henneberger, aus dem kleinen Ort in der ehemaligen Sperrzone der DDR, gaben mit ihrem Transparent die Parole der Stunde aus.
Tausende strömten in der Nacht nach Thüringen
Die „Invasion aus dem Westen“ überraschte vielleicht in der Stärke, tausenden Wessis stand ein Superempfang bevor: „Thüringen grüßt Bayern und Hessen“, „Herzlich willkommen, Landsleute“, „Endlich willkommen“ und „Herzlich willkommen, Deutsche aus Bayern und Hessen“ stand auf unzähligen Transparenten. Nach Jahrzehnten der Trennung schlossen sich in dieser Nacht Nachbarn in die Arme, Junge und Alte, Bekannte und Unbekannte.
Oskar Herbig und Kurt Wiebel machten dabei keine Ausnahme. Zur ersten Begegnung auf bundesdeutscher Seite hatte Meiningens Bürgermeister seinen Mellrichstädter Amtskollegen mit einem Blumenstrauß begrüßt, ein prickelndes „Zum Wohl“ hatte gleich darauf das neue Band der Freundschaft besiegelt. Das aber war dem Kapellmeister der Eußenhäuser Musikanten, die musikalisch untermalten, was die Stunde geschlagen hatte, nun doch ein bisschen wenig von offizieller Note. „So geht des net, Bürchermester. Da muss doch e Ohsprach g'halten wern.“
Oskar Herbig schwelgte in Erinnerungen
Und Oskar Herbig tat, was ihm aufgetragen wurde. Er erinnerte daran, dass er fünf Jahrzehnte zuvor mit dem Fahrrad zur Schule nach Meiningen gefahren war. Klar, dass da alte Schüler-Erinnerungen wach wurden. Und es war ganz verständlich, dass seine Freude über die Grenzöffnung aus frohem Herzen kam: „Das ist ein Schritt, der Menschen zusammenführt, der alte Beziehung wieder neu knüpft.“ Gerade den Neubeginn menschlicher Begegnungen hatte Meiningens Stadtoberhaupt in dieser historischen Stunde allen ans Herz gelegt und für sein Kompliment tosenden Beifall geerntet: „Mellrichstadt hat ein großes Herz für Meiningen, und Meiningen hat ein solches für Mellrichstadt.“
So klang denn beim Marsch gen Henneberg hinunter aus vielen Kehlen und aus voller Brust das Rennsteiglied "Ich wandre ja so gerne am Rennsteig durch das Land". Und hatte die Musikkapelle aus Eußenhausen ursprünglich vor, den Marsch nur bis zur Kontrollstelle auf der Schanz zu begleiten, so war den Musikanten nichts anderes übrig geblieben, als weiter zu marschieren und zu musizieren bis nach Henneberg, wo das Fest der Wiedersehensfreude zu einem Riesen-Happening wurde.
Henneberger hatten für die Bewirtung zusammengelegt
Bratwürste, Bier und Glühwein gab es frei und in rauen Mengen. Um das Fest zu ermöglichen, hatten die Belegschaften der Henneberger Betriebe gesammelt. „Jeder hat zwanzig Mark auf den Tisch gelegt und dann haben wir eingekauft“, war wiederholt zu hören. Und im Gasthaus „Zur Ruine“, wo sich die Menschen im Tanzsaal förmlich auf die Füße traten, stimmte die Eußenhäuser Kapelle im Viertelstunden-Takt das Lied der Grenzöffnung "So ein Tag, so wunderschön wie heute" an.
Glückliche Menschen also, die – wann immer die Stunde des Heimwegs geschlagen hatte – stets ein inbrünstiges „Frohe Weihnacht“ auf den Lippen hatten.