Wenn man nicht wüsste, dass sich auf der Bühne gerade ein russisches Provinzdrama ereignet, was dann? Dann könnte man vermuten, man befände sich in einer wohlbekannten Kleinstadt. Tschechows "Drei Schwestern" hießen nicht Olga, Mascha und Irina, sondern Jeanette, Christine und Annkathrin, und es ginge nicht nur um die Frage "Flüchten oder Standhalten" in historisch fernen Zeiten.
Ausstatter Michael Lindner hat eine abstrakte schneeweiße Landschaft auf die Bühne gesetzt in Frank Behnkes Meininger Interpretation des Tschechow-Klassikers. Die Szenerie wirkt so, als sähe man direkt in eine geöffnete Schneekugel, in der sich ein paar Menschen im gleichen Takt bewegen wie die Schneeflocken, die völlig ungerührt von menschlichen Dramen zu Boden tänzeln. Die wenigen herumstehenden Utensilien - darunter ein Kühlschrank – und die Kleidung signalisieren: Achtung, Gegenwart! In den Fokus der Aufmerksamkeit gerät keine spezifisch russische, sondern eine universelle Gemütsverfassung: die der Melancholie von Menschen, die nur mit Fantasie und Träumerei ihrem sinnarmen Leben in Provinzen unterschiedlichster Couleur zu entkommen glauben. Deshalb ist die seltsam anmutende Leiter, die von der Erde in den Theaterhimmel ragt, nur trittsicheren Lebewesen wie Katzen zu empfehlen. Menschen gerieten auf solchen Fluchtwegen ins Ungewisse schnell aus der Balance.
Drei Schwestern aus kultiviertem Hause also, Olga (Evelyn Fuchs), Mascha (Noemi Clerc) und Irina (Emma Suthe), hängen den funkelnden Erinnerungen ihrer Vergangenheit in der Großstadt nach. Seit Jahren sitzen sie im Provinznest fest, weil der Vater dorthin versetzt wurde. Seit der große Patriarch tot ist, ruhen alle Hoffnungen der Schwestern auf einer Karriere ihres Bruders Andrej (Lukas Umlauft) in der Metropole Moskau. Doch der scheitert grandios an sich selbst, heiratet die Provinzschönheit Natascha (Pauline Gloger) und setzt der Herrschsucht seiner Frau nichts entgegen, die letztlich die Schwestern aus dem Haus treibt.
Ein Klangteppich symbolisiert das Verrinnen der Zeit
Trost findet Andrej nur im Spiel auf seiner Geige. Die weicht in Behnkes Interpretation der E-Gitarre, in deren Saiten Lukas Umlauft immer wieder greift, um aus dem Hintergrund des Geschehens heraus einen Klangteppich zu weben, der das Verrinnen der Zeit symbolisiert. Die gemeinschaftlich intonierten "Sweet Dreams" der Eurythmics animieren die Schneeflocken zwar, für Augenblicke einem blinkenden Sternhimmel zu weichen. Aber die Einsamkeit der Menschen verblasst nur kurz, selbst als Emma Suthes Irina mit herzerweichender Stimme im Song "Small Town" von Lukas Umlauft den Kleingeist in der Provinz beklagt.
Tja, und die Männer, die die drei attraktiven Schwestern umkreisen, als käme ihnen keine andere Fortbewegungsart in den Sinn? Auch sie ebnen keinen Weg aus Ödnis und Langeweile: der versoffene Arzt Tschebutykin (Michael Schrodt), der anarchistische Außenseiter Soljony (Jan Wenglarz), Maschas ungeliebter Ehemann, der pedantische Lehrer Kulygin (Stefan Willi Wang) und der unzufriedene Adelsspross Tusenbach (Matthis Heinrich). Selbst der weltgewandte Werschinin (Vivian Frey), den es eines Tages ins Städtchen treibt, pflegt sein Selbstmitleid und verlässt am Ende Mascha, seine Geliebte. Einzig der Amtsdiener Ferapont (Matthias Herold) fügt sich in seiner Beschränktheit den Verhältnissen (sein positives Gegenstück, Anfissa, die Kinderfrau fehlt in der Inszenierung).
Tschechows Blick auf das Leben im Mikrokosmos einer Kleinstadt ist ein diagnostischer. Dabei kommt er seinen Figuren so nahe, dass man spürt, wie sehr er sie kennt und liebt, in ihrer Komik, ihrer Tragik, ihren Visionen und Sehnsüchten nach einem erfüllten Leben, in dem sich Kultur und Arbeit nicht widersprechen. Tschechow lässt die Schwestern – wie ein Theaterkritiker einst schrieb – in ihren lebenslangen Sehnsüchten nach einem anderen Leben "melancholisch verblühen". Ohne sie am Ende ganz und gar hoffnungslos auf der Bühne stehenzulassen.
Man fühlt dieses langsame melancholische Verblühen in Frank Behnkes Inszenierung mit jedem Atemzug. Die stimmige, leise Dramaturgie, schließt die Stille nicht aus. Und Schauspielerinnen und Schauspieler geraten umso mehr in den Sog dieser Welt in der Schneekugel, je mehr sie erspüren, dass Tschechows Provinzstädtchen um die Ecke liegen könnte.
Nächste Vorstellungen: 27. März, 6. April, 12. Mai und 20. Juni. Kartentelefon 03693-451 222. www. Staatstheater-meiningen.de