„Bilde, Künstler! Rede nicht! Nur ein Hauch sei dein Gedicht.“ Welch schlaue Worte von Johann Wolfgang von Goethe. Ob der große deutsche Dichter am Freitagabend in Wechterswinkel von seiner Wolke im Himmel auf das Kloster geschaut hat, ist pure Spekulation. Wenn, dann hätte sich der gute Johann Wolfgang sicher gefreut. Die Vernissage der Münnerstädter Künstlerin Mia Hochrein, sie war Performance-Kunst in Reinform.
Eine Gruppe Münnerstädter, die „Fecher“ genannt, mit selbst gehäkelten orangenen Masken und orangenen Ganzkörperanzügen, fegt mit Besen und Eimer die Straße vor dem Kloster. Als die „Fecher“ spontan die für die Vernissage engagierten Unterwaldbehrunger Blasmusikanten auf ihrem Zug durch die Ausstellung begleiten, sind die weit über 100 Besucher plötzlich Teil einer Vernissage-Performance, die sie lange nicht vergessen. Mia Hochrein selbst greift zum Besen und kehrt geflissentlich den Boden rund um das Rednerpult, als sie als Teil der Künstlergruppe Institut Heinz die Eröffnung vornimmt. Selbst die Rede der Laudatorin Professor Ursula Panhans-Bühler ist eine liebenswerte, wenn auch unfreiwillige, Performance.
Und dann die Ausstellung selbst. Mit solch unaufgeregter Nonchalance die großen Themen des Lebens aufzuarbeiten, das gelingt nicht vielen Künstlern. Mia Hochrein ist vergangenen Dezember 60 geworden. Sie hat lange als Keramikmeisterin gearbeitet, hat ein abgeschlossenes Studium an der Kunsthochschule in Kassel in freier Kunst und visueller Kommunikation. Zahlreiche Ausstellungen, Stipendien und Preise stehen in ihrer Vita. Mit ihrer Werkschau in Wechterswinkel gibt sie jetzt einen unverstellten Einblick in ihr an Metaebenen so reiches Schaffen. Sammeln, archivieren, transformieren – Hochrein hat schon immer einen Blick für die Dinge im Leben, die die moderne Industriegesellschaft achtlos beiseite lässt. Nichts ist zu klein, zu unbrauchbar, zu unscheinbar, als dass es nicht im Hochreinschen Kunstkosmos eine Verdichtung erfahren könnte, die man als Besucher sofort wahrnimmt ohne sie erklären zu können. In Wechterswinkel ist ihr nun nicht nur eine gewöhnliche Ausstellung gelungen. Sie hat ihren ureigenen, sozusagen den hochreinen, Kunstbegriff den Besuchern begreifbar gemacht.
Der ist nicht schrill, nicht überkandidelt, nicht oberflächlich, nicht auf das schnelle Geld aus. Der Tiefgang der Grafiken, Objekte, Installationen, Künstlerbücher, Fotos, Performances und Projekte, die in Wechterswinkel zu sehen sind, ist atemberaubend. Identität und Heimat – momentan angesichts Millionen Flüchtlinge und Kriege in der Welt ein Thema in jedem Haushalt. Alle reden von Wurzeln, von Heimat, doch diese selbstverständliche Leichtigkeit mit der Mia Hochrein das in ihre Werke transformiert, findet man selten. Neben vielen erwähnenswerten Werken stechen vor allem die sechs hoch- und großformatigen Fotoabzüge gleich im Eingangsbereich der Ausstellung hervor. Hier hat sich die Künstlerin mit ihrer Familiengeschichte auseinandergesetzt in für sie typischer, humorvoller, hintergründiger, aber auch respekt- und liebevoller Manier. Mit weißer Binde um die Augen und einem Ganzkörperkostüm hat sie ein altes, schwarzes Kleid ihrer über 90 Jahre alten Mutter angezogen oder den Arbeitskittel ihres schon verstorbenen Vaters, der Orgelbauer war. Im Schrank fanden sich auch Utensilien der Großeltern, auch das beeindruckende Fotos: Hochrein mit Hut und Fuchs-Pelz der Oma, Hochrein mit Stock und blauer Schürze des Opas.
Es ist erstaunlich, wie man beim Betrachten der Bilder versinken kann in die eigenen Kindheitserinnerungen an Vater, Mutter, Oma und Opa. Momente, in denen man seine eigenen Wurzeln, sein eigenes Ich reflektiert. Wunderbare Momente dank einer wunderbar tiefgründigen Künstlerin.
Mia Hochrein – Konzept, Objekt, Installation. 16. April bis 19. Juni, Kloster Wechterswinkel. Führungen am 8. Mai, 22. Mai, 5. Juni jeweils ab 14.30 Uhr. Finissage am 19. Juni ab 17 Uhr mit Führung.