
Ist die Bundeswehr nur bedingt einsatzbereit? In seinem Jahresbericht beschreibt Hans-Peter Bartels, der Wehrbeauftragte des Bundestags, große Lücken bei Material und Personal. André Wüstner kann Bartels da nur bestätigen. Der 43-Jährige, der aus dem Landkreis Rhön-Grabfeld stammt, ist seit 2013 Vorsitzender des Deutschen Bundeswehrverbands, quasi der Gewerkschaft der Soldatinnen und Soldaten. Im Interview beklagt er eine „Mangelverwaltung, die für viele Soldaten kaum noch zu ertragen ist“.
Nicht nur, dass Ersatzteile für Panzer, U-Boote, Flugzeuge fehlen. Offenbar mangelt es auch an Schutzwesten, Winterbekleidung und Zelten. Ist die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr, sind die Bündnisverpflichtungen gefährdet?
André Wüstner: Die Bundeswehr ist an der Grenze ihrer Möglichkeiten angelangt. Die Erfüllung der enorm gestiegenen Nato-Bündnisverpflichtungen, beispielsweise die Gestellung einer neuen schnellen Eingreiftruppe zusätzlich zur Dauerpräsenz eines Gefechtsverbandes in Litauen, ist parallel zu allen anderen Einsätzen nur noch möglich, indem man das dafür nötige Material nahezu aus dem gesamten Portfolio der Landstreitkräfte zusammenzieht. Daraus folgen diverse Probleme für Ausbildung und Übung in der Heimat. Es besteht somit ein Status der Mangelverwaltung, der für viele Soldaten kaum noch zu ertragen ist.
Schon jetzt ist die deutsche Armee an 16 internationalen Missionen beteiligt. 2019 soll die Führung der Nato-Eingreiftruppe hinzukommen. Überfordert die Politik die Bundeswehr?
Wüstner: Wir sprechen gerade von der kleinsten Bundeswehr seit ihrer Gründung, die mit den größten Herausforderungen unserer Zeit konfrontiert ist. Die Reform 2010/2011 mit den Sparauflagen und Reduzierungen sowie der unüberlegten Aussetzung der Wehrpflicht haben der Bundeswehr schwer zugesetzt. Und die Schocks im Jahr 2014, mit den Krisen und Kriegen in Nordafrika, im Vorderen Orient – Stichwort Islamischer Staat – oder an der Grenze zu Russland, die haben Nato, Europa und auch Deutschland kalt erwischt. Es wurde sodann eine Stärkung der Bundeswehr beschlossen. Allerdings vollzieht sich diese viel zu langsam, während die Einsatzaufträge schnell und deutlich zunehmen. Der Wehrbeauftragte spricht daher zu Recht von einer Überlastung der Truppe.
Der Wehrbeauftragte beklagt auch, dass derzeit 21 000 Dienstposten bei der Bundeswehr unbesetzt sind. Woran liegt das? Ist die Initiative der Bundesverteidigungsministerin, die Armee zu einem attraktiven, vor allem auch familienfreundlichen Arbeitgeber auszubauen, gescheitert?
Wüstner: Die Nachwuchsgewinnung der Bundeswehr läuft besser, als man dieser Zahl entnimmt, nicht super, aber gut. Und dennoch müssen noch gesetzliche Anpassungen vorgenommen werden, um konkurrenzfähig zu bleiben. Beispielsweise bei der Besoldung, denn nicht nur im Bereich IT oder Medizin sind die Angebote der Wirtschaft weit lukrativer als in der Bundeswehr. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass gerade alle – Wirtschaft, Polizei, Öffentlicher Dienst – händeringend gutes Personal suchen. Zur Einordnung von Zahlen: Es dauert eben, bis das Personal fertig ausgebildet auf Dienstposten sitzt. Von den knapp über 170 000 Zeit- und Berufssoldaten, und die bilden den Kern der personellen Einsatzbereitschaft, sind jährlich rund 35 000 in der Ausbildung oder in der beruflichen Weiterbildung für den Übergang in die Wirtschaft. Verteilen Sie das restliche Personal auf die Teilstreitkräfte und Organisationsbereiche stellen Sie fest, dass beispielsweise das Feldheer nicht mal mehr ansatzweise ein Fußballstadion füllt.
Jetzt wissen Sie, was ich mit kleinster Bundeswehr seit ihrer Gründung meine.
Ist Attraktivität nur eine Frage der Besoldung?
Wüstner: Eine gute Besoldung ist kein unwesentlicher Teil von Attraktivität, insbesondere weil junge Menschen heute mehr denn je vergleichen und sich ihren Beruf aussuchen können. Wesentlich bleibt aber auch die Attraktivität am Arbeitsplatz und da sind wir bei der Ausrüstung, Fragen der Betreuung oder Infrastruktur. Diesbezüglich muss wieder ermöglicht werden, dass beispielsweise jeder Soldat ein Bett und einen Spind innerhalb der Liegenschaft hat. Das Wesentliche, das es nicht per Gesetz gibt, aber ist die gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung, insbesondere für den Beruf des Soldaten. Hier hoffe ich, dass die Bundeswehr trotz Aussetzung der Wehrpflicht auf der Zeitachse keinen Einbruch erleidet.
Im Bericht von Hans-Peter Bartels ist von einer „schleichenden Tendenz zur Aushöhlung der persönlichen Führungsverantwortung" die Rede. Traut die militärische Führung den „normalen Soldaten" zu wenig zu?
Wüstner: Das folgt der letzten Reform und damit einer übermäßigen Zentralisierung sowie Überregulierung, mit der das Ministerium 2011 dachte, man könne den Mangel besser verwalten. Nun hat man komplexe Bundeswehr-interne Prozessketten mit zu vielen Entscheidern, die für das Ergebnis nicht verantwortlich sind. Das alles untergräbt unsere Führungskultur und so muss das Problem einer geschaffenen Verantwortungsdiffusion schnell auch wieder durch ein Mehr an Dezentralisierung gelöst werden. Politik kann aktuell froh sein, dass Zivilbeschäftigte sowie Soldaten das Beste aus den schlechten Rahmenbedingungen machen, aber zunehmend geraten Wille und Können an ihre Grenzen.
Nach dem Auffliegen des rechtsextremen Terrorverdächtigen Franco A. hat die Ministerin die Kasernen – inklusive der Stuben der Soldaten – nach Wehrmacht-Devotionalien durchsuchen lassen und eine Überarbeitung des Traditionserlasses von 1982 angekündigt. Wie kommt das bei den Soldaten an? Werden sie mit eingebunden?
Wüstner: Die Maßnahmen aufgrund des Falls Franco A. folgten eher einem politischen Reflex und hatten weniger mit einem gut durchdachten Handeln zu tun. Das kritisierten wir hart, ohne einzelne Verfehlungen schönzureden. Allerdings hatte sich vieles, was Mitte 2017 dazu zu lesen war, nach Abschluss aller Ermittlungen nicht bestätigt. Unabhängig davon war man schon im Jahr 2010 der Auffassung, dass der Traditionserlass von 1982 einer Überarbeitung bedarf. Das erfolgte nun unter unserer Beteiligung seit letztem Jahr. Der überarbeitete Entwurf wird gerade im Verteidigungsausschuss erörtert. Das haben wir auch eingefordert, denn der Umgang mit Tradition hat nicht nur eine militärische, sondern vielmehr auch eine politische und gesellschaftliche Dimension.
Viele Probleme, die der Wehrbeauftragte und auch der Bundeswehrverband benennen, sind seit Jahren bekannt. Warum ändert sich nichts?
Wüstner: Nach dem neuen Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands 2016 wurden Trendwenden bei Material und Personal eingeleitet. Das erfolgt jedoch viel zu langsam, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die internationale Ordnung im Umbruch ist, gekennzeichnet durch weltweit zunehmende Krisen und Konflikte. Was es jetzt braucht, ist unter anderem eine Anpassung der Beschaffungsverfahren, auch gesetzlich, und eine mittelfristige Planbarkeit für die Industrie, so dass diese wieder Kapazitäten aufbauen kann. Aber letztlich geht es um einen parteiübergreifenden Willen für bald wieder voll einsatzfähige Streitkräfte. Dabei geht es nicht um Aufrüstung, sondern um ein Auffüllen von Lücken bei Personal und Material. Und ja, dafür muss auch das notwendige Geld zur Verfügung gestellt werden.
Ursula von der Leyen ist seit vier Jahren die verantwortliche Ministerin. Wünscht sich der Bundeswehrverband eine personelle Veränderung?
Wüstner: Nach unserem Verständnis entscheidet die Politik eigenständig über die Ressortbesetzung. Ob es allerdings in der jetzigen Phase des Aufwuchses zweckmäßig ist, eine Ministerin mit ihren Staatssekretären auszutauschen, kann ich aus Erfahrung zumindest bezweifeln. Und das sage ich, obwohl wir als Berufsverband letztes Jahr auch einmal im heftigen Konflikt mit Frau von der Leyen waren. Unabhängig davon müssen wir jetzt erst mal den Mitgliederentscheid der SPD abwarten und überhaupt hoffen, dass es endlich zu einer stabilen Regierung kommt. Auch mit Blick auf die Bundeswehr ist es höchste Zeit dafür.
André Wüstner ist in Bad Königshofen geboren. Kindheit und Jugend verbrachte er in Irmelshausen und Mellrichstadt (alle Lkr. Rhön-Grabfeld). Unter anderem als Chef einer Mellrichstadter Panzergrenadierkompanie war der heute 43-Jährige als Soldat bei mehreren Auslandseinsätzen der Bundeswehr dabei, darunter im Kosovo und in Afghanistan. Wüstner lebt mit seiner Frau, einer geborenen Rhönerin, und zwei Kindern heute im Westerwald.