Der Weg von Romantik zum Kitsch kann verdammt kurz sein. Geradezu verdächtig wird es, wenn die Stille einer Sommernacht, Lagern am Ufer eines Sees und Gedichte unter dem Sternenhimmel zu einem Gefühlserlebnis zusammengebunden werden.
Da kommt es entscheidend auf die Auswahl der Texte an und auf die Art, wie sie vorgetragen werden, wenn dabei mehr als billig-süße oder billig-saure Gefühlsduselei herausspringen soll. Die Voraussetzungen wären dazu gegeben gewesen am Ufer des Frickenhäuser Sees für die Besucher der Nacht der Poesie, die sich in dem weiträumigen Gelände entspannt auf mitgebrachten Matten, Stühlen oder auf den dortigen Bänken ausgebreitet hatten. Sie waren einer Einladung des Vereins „Aktives Mellrichstadt“ gefolgt.
Von Goethe bis Ringelnatz
Christine Hadulla und Peter Hub, die beiden Profi-Rezitatoren, waren sich der Gratwanderung bewusst, auf die sie sich mit den „Sternen-Poeten – Poesie zur Nacht“ begeben hatten.
Über fünfzig lyrische Texte, zumeist Gedichte von Autoren wie Goethe, Christian Morgenstern, Rainer Maria Rilke, Joachim Ringelnatz und Mascha Kaleko sowie etlichen anderen Dichtern, hatten sie ausgewählt, um den fast 200 Besuchern einen Abend der Besinnlichkeit zu bescheren.
Nein, Kitsch und Sentimentalität kamen nicht auf bei diesem lyrischen Spiegeln des Menschenlebens in zahlreichen Facetten. Vom Zauber des dichterischen Worts war eingangs die Rede mit Eichendorffs „Wünschelrute“, welches eine ganz andere Welt erschließt als das Denken in „Zahlen und Figuren“ (Novalis), als der plumpe, gefühllose Zugriff auf die Welt: „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Sie sprechen alles so deutlich aus“ (Rilke). Mit Goethe erinnerten die beiden Vortragenden an die Freuden der Liebe und der Geselligkeit, die die Nacht bieten kann. Nacht auch als die Zeit der Besinnung, des In-sich-Gehens, des Zur-Ruhe-Kommens, aber auch der Zeit, in der Enttäuschungen, unerfüllte Sehnsüchte und Todesahnungen lebendig werden.
Dauerhafte und flüchtige Liebe fanden Ausdruck in Gedichten von Mischa Kaleko, Erich Mühsam, Erich Kästner und Goethe, ebenso die naiv-beseligende Freude am Dasein, das Bejahen der Vergänglichkeit, mit einem ordentlichen Schuss Humor versehen von Dichtern wie Christian Morgenstern, Joachim Ringelnatz und dem Humoristen Heinz Erhard.
Dimension der Nacht
Bei aller Gebundenheit an das Menschlich-Irdische, das in den Texten zum Ausdruck kam, öffnete sich mit der sich vertiefenden Dämmerung und dem Hervortreten der Sterne immer deutlicher eine ganz andere Dimension, dass unser menschliches Sehnen, Fühlen, Denken, Handeln eingebettet ist in eine ungeheuer weite andere Welt, in die Grenzenlosigkeit von Raum und Zeit. Darin mag man die Berechtigung dafür sehen, dass die poetischen Texte zur Nachtzeit vorgetragen wurden, also zu einer Zeit, in der sich der Alltag mit seiner grellen Helligkeit nicht mehr vordrängt und unser Bewusstsein in Beschlag nimmt.
Morgensterns Gedicht „Hochsommernacht“ hätte geradezu als Leittext für diesen Abend am Ufer des Sees dienen können: „Es ist schon etwas, so zu liegen, im Aug der Allnacht buntem Plan, so durch den Weltraum hinzufliegen auf seiner Erde dunklem Kahn! Es ist schon etwas, so zu reisen im Angesicht der Ewigkeit, auf seinem Wandler hinzukreisen, so unaussprechlich eins zu zweit ...“
Stifters majestätischer Himmel
Darum fehlten auch nicht Gedichte wie Eichendorffs „Mondnacht“ oder Mörikes „Um Mitternacht“, ausnahmsweise auch einmal ein Prosatext von Adalbert Stifter (1806 –1868), in denen die Majestät des Sternenhimmels und der Nacht ausgedrückt wird. Da wird der Mensch klein, lernt es, sich mit Rilke zu bescheiden oder sich mit Matthias Claudius‘ schlichter Frömmigkeit (in „Der Mond ist aufgegangen“) in Gottes Obhut zu begeben. Mit Reinhard Meys bekanntem Liedtext „Gute Nacht, Freunde“ beendeten Peter Hub und Christian Hadulla nach rund achtzig Minuten diesen Abend der inneren Einkehr, vom dankbaren Beifall der Besucher verabschiedet.