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Meiningen
Das Meininger Theater mit einer etwas anderen "Alice im Wunderland"
Im Zeitalter vielerlei Weltfluchtmöglichkeiten präsentiert das Junge Staatstheater Meiningen eine besondere Version von Lewis Carrolls Klassiker.
Bei dieser blutrünstigen Herzkönigin, die renitente Untertanen am liebsten einen Kopf kürzer machen würde, verschlägt es selbst Alice die Sprache. (v.l. Alina Gitt, Emil Schwarz)
Foto: Christina Iberl | Bei dieser blutrünstigen Herzkönigin, die renitente Untertanen am liebsten einen Kopf kürzer machen würde, verschlägt es selbst Alice die Sprache. (v.l. Alina Gitt, Emil Schwarz)
Siggi Seuß
 |  aktualisiert: 12.03.2023 03:04 Uhr

Damals, als die bürgerliche Welt noch in überschaubarer Unordnung war, da durfte Alice allein durch geschwisterliches Vorlesen im Wunderland versinken. Zahllose Fantasiewelten öffnen sich seither für neugierige Menschen mittels geheimer Pforten in Büchern oder Schränken oder an verborgenen Orten.

Doch inzwischen gibt es für junge Leute ganz andere Eintritte in unbekannte Gefilde. Einen davon nützt die heutige Alice in der Version der Regisseurin Gabriela Gillert in der Gemeinschaftsinszenierung von Jungem Theater, Puppentheater und Junger Musik in den Meininger Kammerspielen.

Ein widerspenstiger Teenie

Die Meininger Alice ist keinesfalls das brave Mädchen, das Lewis Carrolls Vorbild für die Rolle war, Alice Liddell, Töchterchen eines Oxforder Collegedekans. Die moderne Alice ist bereits ein widerspenstiger Teenie, lümmelt in ihrem Zimmer mit übergestülpten Kopfhörern kopfunter auf einem Sessel herum, raucht eine Zigarrillo, die verdächtig marihuanahaltig erscheint, kippt die Asche auf einen tönernen Hasen und kümmert sich nicht die Bohne um das Geschrei der Eltern von nebenan. "Hör auf zu träumen! Räum dein Zimmer auf! Was soll aus dir werden?"

Szenen also aus einem Pubertierdrama des 21. Jahrhunderts. Was daraus folgt, setzen Helge Ullmann und Christian Rinke in fantastisch schräge Bühnenbilder, Kostüme und Projektionen um, die in den folgenden 80 Minuten die Welt und die Zeit, wie wir sie kennen, außer Kraft setzen. Alice gerät auf der Spur eines sprechenden weißen Kaninchens in den Sog eines schier unendlichen Albtraumtunnels – und landet in einer Parallelwelt. Verschobene Perspektiven, wohin man blickt.

Die Grinsekatze darf nicht fehlen

Niedrige Räume, hohe Räume. Türen zu klein, Türen zu groß. Dort ein schiefer gedeckter Tisch, Teetassen ohne Boden. Alice schrumpft und wächst und schrumpft und wächst über sich hinaus, drei Meter hoch. Und drumherum eine ganze Menge seltsamer sprechender Wesen – ein Großteil der Personnage aus Carrolls Original: Märzhase. Hutmacher. Raupe. Natürlich die Grinsekatze. Herzkönig.

Teatime mit Alice, dem Märzhasen und dem Hutmacher. Da kann ja nichts schiefgehen, oder doch? (v.l. Alina Gitt, Sebastian Putz und Emil Schwarz)
Foto: Christina Iberl | Teatime mit Alice, dem Märzhasen und dem Hutmacher. Da kann ja nichts schiefgehen, oder doch? (v.l. Alina Gitt, Sebastian Putz und Emil Schwarz)

Die blutrünstige Kopf-ab-Herzkönigin. Ein irrer Richter. Allerliebst: der wundersame Schildkrötensupperich, der seine Lebensweisheit gaaanz langsam direkt aus der Suppenschüssel zum Besten gibt, egal, ob Alice sie hören will oder nicht. All das Verrückte, Verkehrte, Verdrehte geschieht, obwohl der Boden dieser Welt wie ein leicht verzerrtes Schachbrett gemustert ist. Selbst dem Spiel der Könige scheint die Logik abhanden gekommen zu sein.

Die bürgerliche Wohlanständigkeit

Gut, zu Zeiten der alten Alice konnte man diese unglaublichen Fantastereien der heimlichen Seelenverwandtschaft eines genialen Erzählers mit seiner verträumten jungen Zuhörerin zuschreiben: Ein gemeinsamer Aufstand gegen das eiserne Regelwerk bürgerlicher Wohlanständigkeit und bürgerlichen Wohlstands. Aber heute, im Zeichen des universellen Rausches und vielerlei halluzinogener Weltfluchtmöglichkeiten? Da kommt einem die Alice aus der Generation Z durchaus realistisch vor.

Niedlich, aber wenn er den Mund aufmacht und von Erdbeerkunde mit oder ohne Schlagsahne schwadroniert, ziemlich ermüdend. Alice und der Schildkrötensupperich (Alina Gitt, Maria A. Alba)
Foto: Christina Iberl | Niedlich, aber wenn er den Mund aufmacht und von Erdbeerkunde mit oder ohne Schlagsahne schwadroniert, ziemlich ermüdend. Alice und der Schildkrötensupperich (Alina Gitt, Maria A. Alba)

Das Faszinierendste an dieser Inszenierung sind mitnichten moralische Botschaften über den Zustand pubertierender Gören im Zeitalter permanenter Reizüberflutung. Das Faszinierendste ist das reibungslose Zusammenwirken der verschiedenen Gewerke, die Alices Albtraum zum Leben erwecken: Die Puppenbauer Udo Schneeweiß und Lena Schlecht mit ihrer bunten Schar an Persönlichkeiten, die Puppenspieler Sebastian Putz, Falk P. Ulke, Maria A. Albu, Kerstin Wiese, Anna Fülle und Emil Schwarz mit ihrem enormen körperlichen Einsatz – vom filigranen Gestus bis zur über die Bühne tapsenden Monster-Alice.

Das vermaledeite Wunderland

Die Schauspielerin Alina Gitt als Alice, die durch die wundersame Welt treibt und getrieben wird. Dazu drei Musiker der Hofkapelle (Cello, Oboe, Synthesizer), die dem Nonsens mit Kompositionen von Harish Shankar und Mark Johnston Spannung verleihen. Sie alle tragen dazu bei, dass man sich am Ende nur mit Mühe am eigenen Schopf aus dem vermaledeiten Wunderland zieht.

Nächste Vorstellungen: 20. und 24. März. Kartentelefon: 03693-451 222. www.staatstheater-meiningen.de

 
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