
"Nüchtern betrachtet, ist besoffen besser." Angesichts der Weltlage ist diese Volksweisheit das Erste, was einem zur Meininger Inszenierung der Operette aller Operetten einfallen könnte, zu Johann Strauß' "Die Fledermaus". Der zweite Impuls zeigt sich bereits beim Melodienpotpourri der Ouvertüre. Es fühlt sich an, als tanze das Publikum jetzt schon innerlich Wiener Walzer.
Vor ein paar Jahren hätte man die Ereignisse in den feudalen Gemächern der 1870er Jahre mit der Liedzeile kommentiert "Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist". Und heute? Der österreichische Regisseur Georg Schmiedleitner ("Dreigroschenoper") geht härter zur Sache. Das, was das Publikum voyeuristisch begleitet, ist eine aus den Fugen geratene Wiener Schmäh-Gesellschaft voller Begierden, Lug und Trug und Wohlstandslangeweile.
Uhr wird zurückgedreht
Damit sich das Publikum nicht in der Dekadenz verliert, hat man den komödiantischen Sprechpart des besoffenen, grundwahrhaftigen Gerichtsdieners Frosch mit Thorsten Merten (im Wechsel mit Michael Jeske) besetzt, dem vielseitigen Schauspieler mit Weimarer Tatorterfahrung. Dieser Frosch darf frei von der Fettleber weg über Wärmepumpen und Paketdienste schwadronieren, bevor die ernüchterte Ballgesellschaft frühmorgens im Gefängnis auftaucht und die Uhr ins 19. Jahrhundert zurückdreht. Da spürt man zwar einen dramaturgischen Bruch, aber was soll's? Die Leute lachen sich beim 2023er-Frosch einen Kringel.
Der Regisseur und sein Bühnenbildner Stefan Brandtmayr setzen Wien nicht unter eine Quarantäneglaskuppel, wie einst ein Regiekollege den radioaktiv verseuchten Wolfgangsee im "Weißen Rössl". Aber ein Hauch von Endzeitstimmung ist sowohl in den Charakteren angelegt als auch im fantastisch-surrealen Salon des depressiven, tödlich gelangweilten Prinzen Orlofsky, der in seinen jungen Jahren schon durchlebt hat, was ein gewöhnlicher Mensch nicht in drei Leben zustande bringt.
Jetzt folgt das große Aber. Das Perfide ist, dass sich das Publikum nicht mit Schampus, Sliwowitz oder Kokain abfüllen muss, um so etwas wie das Glück des Augenblicks zu empfinden. Es ist das geniale Teufelswerk des Komponisten, das einen in Trance versetzt, mit unsterblichen Melodien und dem gewitzten Libretto von Richard Genée, "Trinke Liebchen, trinke schnell", "Brüderlein und Schwesterlein", "Klänge der Heimat", "Oh je, oh je, wie rührt mich dies".
Allein der melodische Reigen wirkt berauschend, wenn er – wie von der Meininger Hofkapelle unter GMD Killian Farrell – so in die unheile Welt gesetzt wird, dass man am liebsten stante pede mittanzen wollte. Dann die Farbenpracht der Kostüme von Cornelia Kraske, die Stimmungen, die der Chor unter Leitung von Roman David Rothenaicher raumfüllend übers Publikum breitet.

Mit viel Charme und Witz
Aber zuallererst das Team an Sängerinnen und Sängern, das sich nahtlos in die Ensembletradition des Hauses einfügt. Spielerisch leidenschaftlich, mit Charme und Witz und einem beeindruckenden Stimmpotenzial: Emma McNairy als Rosalinde, Johannes Mooser als Eisenstein, Fenja Lukas (alternierend mit Monika Reinhard) als Adele, Shin Taniguchi als Dr. Falke, Mykhailo Kushlyk (Alfred), Johannes Schwarz (Frank), Tobias Glagau (Advokat) und Dorothea Böhm (Ida) und schließlich Marianne Schechtel als Prinz Orlofsky (Elina Garanca begann 1999 unter anderem mit dieser Rolle in Meiningen ihre Weltkarriere).
An der Textverständlichkeit müsste jedoch gefeilt werden, vielleicht dadurch, dass sich das Orchester einige Nuancen leiser profiliert. Davon abgesehen: Das Publikum kann leichtfüßig in der Gewissheit nach Hause tänzeln, dass erst die professionelle Nüchternheit der Künstler die Besoffenheit der Figuren reizvoll macht. Und das ist schon mal eine gute Nachricht in schlechten Zeiten.
Weitere Vorstellungen: 25. und 31. Dezember, 20. Januar, 11., 17 und 28. Februar. Karten gibt es unter Tel.: (03693) 451222, oder www.staatstheater.meiningen.de


