
Wie man die Freuden am italienischen Operngesang für Augenblicke vergisst? Man braucht sich nur dem fließenden Strom der Harmonik einer französischen Tragédie lyrique hinzugeben, die ihre Geschichte im nahtlosen Wechsel unterschiedlichster musikalischer Partien erzählt.
So entfaltet sich die lyrische Tragödie in Jean-Philippe Rameaus Barockoper "Castor et Pollux" als würde sie die Menschen zu einer Abenteuerfahrt auf dem Unterweltfluss Styx einladen. Die Hölle ist nah und das Irdischen nicht fern. – Premiere einer der schönsten Opern Rameaus. Erstmals im Meininger Staatstheater, in der von Jens Neundorff von Enzberg bearbeiteten, auf knappe zwei Stunden gerafften (deutsch übertitelten) Fassung von 1734.

Überraschende Blickwinkel in Richtung Sternenhimmel
Nach der Vorstellung könnten sich einem überraschende Blickwinkel in Richtung Sternenhimmel eröffnen. Und man wird den Chor des Theaters unter Leitung von Roman David Rothenaicher mit ganz neuen Augen sehen: So viel Wandlung, so viel Tanz, so viel Bewegung, so viel himmlisch-höllischer Gesang war nie.
Die Inszenierung der Regisseurin, Schauspielerin und Autorin Adriana Altaras unter dem Hofkapellen-Dirigat des britischen Barockspezialisten Christopher Moulds ist ein wahres Fest der Sinne – was sich besonders in den Schlussbildern zeigt, im "Fête de l'univers" und in der Arie "Brillez, astres nouveau" ("Nun strahlt, ihr neuen Sterne").
Kostüme changieren zwischen modern und märchenhaft
Die Kostüme von Nina Lepilina changieren zwischen modern und märchenhaft. Die Bühnenbilder des britischen Bildhauers Sir Tony Cragg (Co-Bühnenbildnerin: Verena Hemmerlein) führen in eine zeitlose Welt, in einen Mikrokosmos von Gesteinen, Pflanzen und neuronalen Netzwerken, und, wenn es ums Übernatürliche geht, in den Makrokosmos.
Die Bilder werden als Zeichnungen an die Wände des ansonsten nahezu leeren Raumes projiziert. Erst nach der Pause kommt eine monströse Skulpturenlandschaft ins Spiel, mit urzeitlichen, gestuften Gesteinssäulen, in denen sich auch menschliche Umrisse verstecken.
Man muss kein Kenner griechisch-römischer Mythologie sein, um zu ahnen: Hier geht es um Unsterblichkeit, die angesichts des ewigen Vor-sich-hin-Menschelns zwar ziemlich anstrengend zu werden droht, heute aber schwer zeitgeistig ist ("Sterben war gestern").

Castor und Pollux lieben ein und dieselbe Frau
Trotzdem blickt man als Sterblicher nach der Vorstellung sehnsuchtsvoll zum Sternenhimmel, auf der Suche nach dem Zwillingsgestirn Castor und Pollux, benannt nach dem Brüderpaar aus der griechischen Sagenwelt. Der eine ist sterblich, der andere ein Unsterblicher. Und beide lieben ein und dieselbe Frau. Quel tragédie! Und die Vierte im Bunde – Télaïres Schwester Phébé, die unerwidert Pollux liebt – bleibt ungetröstet zurück und nimmt sich das Leben.
Aber gemach! Das ist noch nicht das Ende. Jene im Publikum, die dank Liebesleid manchmal nicht mehr wissen, wo der Himmel aufhört und die Hölle beginnt, jene Leiderfahrenen dürften spätestens beim "Fête de l'univers" für Augenblicke die schnöde Wirklichkeit vergessen. Das Ende des Leids in einer hoffnungsvollen Parallelwelt aus Poesie und Fantasie bringt Adriana Altaras gewitzt und augenzwinkernd ins Spiel. Wie langweilig und bademantelkonform dagegen die ewigen Kuranwendungen im Elysium.
Die Geschichte in Kürze: Die Brüder sind Herrscher Spartas. Castor wird im Krieg getötet. Seine Geliebte Télaïre ist untröstlich. Pollux rächt den Bruder und gesteht Télaïre seine Liebe. Die weist ihn ab und nötigt ihn, Castor aus der Unterwelt zurückzuholen. Dem stehen die Gesetze von Leben und Tod im Weg. So entscheidet sich Pollux in selbstloser Bruderliebe den Platz seines Bruders in der Unterwelt einzunehmen. Dass dann durch Fügungen von oben alles anders kommt, dazu braucht es schon einen barocken Donnergott.

Lustvolles Schwelgen zwischen Himmel und Erde
Man ist beglückt von Gesang und Spiel von Aleksey Kursanov (Castor), Tomasz Wija (Pollux), Emma McNairy (Télaïre) und Sara-Maria Saalmann (Phébé). Man erinnert sich an die Engelchen im Poesiealbum und ist entzückt vom Auftritt des geflügelten Götterboten Mercure (Laura Braun), der dem alten Pascha Jupiter (Selcuk Hakan Tiraşoğlu) und seinem Hohepriester (Mark Hightower) durch freundliche Gesten gegenüber den Sterblichen den Wind aus den Segeln nimmt.
So endet dieses feinsinnige Gesamtkunstwerk mit einem Reigen lustvollen Schwelgens zwischen Himmel und Erde, bereichert durch diverse Genussmittel. Und das Publikum glaubt für ein paar Augenblicke, die Gestirne hätten sich tatsächlich mit dem Allzuirdischen vereint.
Nächste Vorstellungen: 28. Februar, 8. März, 16. April, 4. Mai, 3. Juli. Kartentelefon 03693 - 451 222. www.staatstheater-meiningen.de