Vor fast einhundert Jahren bewohnte die jüdische Familie Lichtenstein ein Haus am Marktplatz von Bad Neustadt und betrieb dort ein Weißwaren-/Wäschegeschäft. Kürzlich besuchte ein Nachkomme dieser Familie, Roberto Lichtenstein, mit seiner Frau und ihren zwei erwachsenen Kindern die Heimat seiner Vorfahren.
Seine Urgroßmutter, die Witwe von Selig Klein (1858-1908), führte damals das Geschäft. Für ihre Tochter Rosa (geb. 1887 in Mittelstreu) suchte sie 1912 einen Ehemann, der auch das vorhandene Geschäft übernehmen sollte, und fand ihn in Martin Lichtenstein aus Mecklenburg-Schwerin.
1914 wurde als erster Sohn Siegbert, der Vater von Roberto, geboren. Zwei Mädchen, Ruth und Hilde, folgten. Rosa Lichtenstein starb aber schon 1923 und Martin heiratete ein zweites Mal. Die zweite Frau hieß ebenfalls Rosa, war eine geborene Reis, und brachte noch einen gemeinsamen Sohn namens Norbert zur Welt.
Familie wanderte nach Argentinien aus
Die ganze Familie um Martin Lichtenstein wanderte schließlich unter dem zunehmenden Druck des nationalsozialistischen Regimes bis 1936 in mehreren Wellen nach Argentinien aus, gerade noch rechtzeitig, um der Deportation und dem Tod in den Vernichtungslagern zu entgehen.
In Argentinien wurde im Jahr 1962 Roberto Lichtenstein geboren. Großvater Martin starb im Jahr darauf, die Großmutter Rosa war bereits 1958 verstorben. Roberto ging in eine deutsche Schule in Buenos Aires, studierte dort und heiratete 1986 seine Andrea, mit der er zwei Kinder hat. Sein Vater Siegbert starb im Jahr 2000, die Mutter Else 2015. Heute lebt das Ehepaar Roberto und Andrea in Basel, ebenso Sohn Ariel und Tochter Tamara.
Die Lichtensteins hatten sich gut auf ihren Besuch in der Heimat der Vorfahren vorbereitet, eine Stadt- und Friedhofsführung beim Tourismus & Stadtmarketing gebucht und ein Treffen mit dem Stadtarchivar Thomas Künzl verabredet.
Emotionale Momente am Mahnmal
Die Stadtführer Günter Henneberger und Michael Weiß zeigten der Familie die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Innenstadt und gingen dabei auch besonders auf die jüdische Vergangenheit ein sowie darauf, wie die Stadt zur Zeit der Großeltern aussah.
Es waren sehr emotionale Momente, als Roberto Lichtenstein am jüdischen Mahnmal in der Bauerngasse die Namen von Verwandten und Bekannten seiner Eltern las, als er die ehemalige jüdische Schule und das Haus seiner Tante in der Storchengasse sah.
Ein außerordentlicher Glücksfall war es, dass Michael Weiß heute im ehemals Lichtensteinschen Anwesen am Marktplatz wohnt. So konnte er für die Besucher die Türen des Hauses öffnen, in dem Roberto Lichtensteins Vater seine Kindheit verbrachte.
Kaddisch am Grab der Vorfahren
An die Altstadtführung schloss sich eine Fahrt zum jüdischen Friedhof (an der Mozartstraße) an, wo die Gäste die Gräber ihrer Angehörigen besuchen, Steine auf die Gräber legen und das Kaddisch-Gebet für die Verstorbenen sprechen konnten.
Am Nachmittag stand dann noch ein Besuch im Stadtarchiv an, wo die Familie Lichtenstein weitere wertvolle Informationen über ihre Neustädter Vorfahren erhielt. Natürlich durfte auch eine Einkehr in der Eisdiele, die sich jetzt in dem ehemaligen Wohnhaus der Lichtensteins befindet, nicht fehlen.
Hier stieß die Kulturreferentin Anne Zeisner zu den Gästen und konnte weitere Auskünfte zu dem Haus geben, das der Großvater ihres Ehemanns, Josef Zeisner, 1936 gekauft hatte.
Zweiter Besuch nach 35 Jahren
Die Gäste waren sehr angetan von dem „warmen Empfang, den sie in Bad Neustadt erlebten“, und auch von der Stadt selbst. Sie habe sich in den letzten 35 Jahren erstaunlich gut weiterentwickelt, meinte Roberto Lichtenstein, der damals schon einmal mit seiner Frau Andrea hier gewesen war. Und Familie Lichtenstein würde gerne bald wieder mal nach Neustadt kommen, hoffentlich im erweiterten Familienkreis und mit mehr Zeit, um auch die Salzburg und die nähere Umgebung der Rhön kennenzulernen.