Fünfzehn Wochen Langzeittherapie in der Saaletalklinik in Bad Neustadt sind eine lange, lange Zeit und lang genug, um mehr als einen Eindruck von einer Stadt und ihren Bewohnern zu gewinnen. Mich hatte meine Alkoholproblematik hierher gebracht. Ich suchte in Bad Neustadt neue Perspektiven, um durch den Nachweis meiner Therapie und deren Erfolg wieder Kontakt zu meinen dreizehn und siebzehn Jahren alten Töchtern zu bekommen.
Nach ein paar Wochen erschien zumindest mir die Klinik mit dem abblätternden Charme der 70er Jahre ein wenig wie "Der Zauberberg" von Thomas Mann, allerdings weitaus weniger glamourös und elegant. Das machte aber nichts. Liegt doch das gesellschaftlich Interessante einer solchen Einrichtung im periodischen Gehen und Kommen der Rehabilitanten, wie die Patienten hier amtskorrekt heißen.
Ein klein wenig Zauberberg unterhalb der Salzburg
Denn auch hier, nur ein wenig unterhalb der altehrwürdigen Salzburg, findet sich eine Ansammlung aller Typen des Menschseins, der Alkohol macht da keinen Unterschied und zumindest auf der Außenterrasse auch ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, der Themen und mitunter auch der schönen Frauen, unter denen mir eine gertenschlanke, dunkelhaarige romanische Schönheit, immer gut gelaunt und schön gekleidet, schnell ins Auge fiel. Übriges hatte die Saaletalklinik auch einen baltischen Baron und einem hübschen Jüngling aus gehobensten Verhältnissen zu bieten. Also doch ein wenig Zauberberg. Auch was die magische Anziehung zwischen Männlein und Weiblein betrifft.
Nun ist aber das Anbandeln zwischen dem starken und dem schönen Geschlecht, in der Klinik neudeutsch "Pairing" genannt, bei den Therapeuten und der Klinikleitung, weil nicht therapiefördernd, nur ungern gesehen und so verzichtete ich ganz therapiekonform auf ein solches Abenteuer - was ich daheim in München nun allerdings durchaus ein wenig bedauere , die gertenschlanke, dunkelhaarige Schöne hatte es mir eben doch angetan
Von der Außenterrasse auf den Marktplatz
Da man nun aber als Nichtraucher auf der Außenterrasse, die de facto eine Raucherterrasse ist, nicht alle freien Stunden verbringen kann, habe ich als Nichtraucher viele, viele Stunden in der Altstadt von Bad Neustadt verbracht. Da Neustadts Altstadt nach wie vor von einer Stadtmauer umgeben ist, spielt sich das Leben im alten mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtkern ab - und das nicht verstaubt oder nostalgisch verklärt, wie in so manchen Bilderbuchromantikmittelalterstädten. Man verzeihe dieses Wortungetüm, aber es trifft die Sache am besten.
Die Stadt hat als markanteste Bauwerke die klassizistische Kirche, einen herrschaftlichen fürstbischöflich-würzburgischen barocken Verwaltungsbau, der heute noch seiner Bestimmung dient und die gotische Karmeliterkirche. Letztere ein architektonisches Kleinod mit einer herrlichen barocken Ausstattung. Der steilaufragende, spitze Turm der Karmeliterkirche sticht wie in eine Nadel in den Neustädter Himmel. In der Kirche befindet sich unweit des Eingangs ein schöner Taufstein aus dem 15. Jahrhundert, der in meiner Vorstellung zum Taufstein von Martin Luthers Mutter Margarethe wurde, die aus Bad Neustadt stammen soll.
In Bad Neustadt ist die Vergangenheit ohne jede nostalgische Verklärung Gegenwart! Etwas Vergleichbares habe ich nur in den hochgelegenen, mauerumgurteten Städten der Toskana und Umbriens erlebt. Wenn ich in diesem sonnenreichen Sommer die Stadtmauer entlangging, wurden Erinnerungen an Arrezzo wach. Wie eine toskanische Stadt, hat auch Bad Neustadt einen überwiegend von alten Häusern umrahmten Marktplatz, der einer Piazza gleich, dem städtischen Leben eine Bühne bietet.
Im Fränkischen wird einem italienisch zumute
Der Lions-Club betreibt ein öffentliches Bücherregal, aus dem der geneigte Leser kostenfrei Bücher entnehmen und ausgelesene einstellen kann. Ich stieß auf Richard Voss' Roman "Römisches Fieber" von 1902 in einer Ausgabe der dreißiger Jahre. Da nun die Sonne brannte und mir hier plötzlich im Fränkischen ganz italienisch zumute wurde, erschien mir diese Lektüre gerade recht, zumal Richard Voss ( 1850-1918) ein guter Freund des Meininger Theaterherzogs war und der Autor schon wegen der geographischen Nähe zwischen Bad Neustadt und Meinigen hier ein gewisses Lokalcolorit besitzt.
Ein Café-Pavillon am Marktplatz bot mir den geeigneten Ort, um bei einem Glas Caffè Latte mit der Lektüre zu beginnen. Um es gleich vorweg zu nehmen, die Lektüre war so literarisch und kulturhistorisch ergiebig, dass ich mir vornahm, weitere Bücher dieses Autors zu lesen, um in naher Zukunft einen Aufsatz über diesen heute nahezu vergessenen Autor des wilhelminischen Zeitalters zu schreiben. Eine samstägliche Exkursion ins nahe Meiningen konkretisierte meine Vorstellungen, zumal die Dramen von Voss im Meininger Theater des Herzogs Georg II. zahlreiche Aufführungen erlebten.
Familiär wie in italienischen Bars
Über den Zentralversand der Antiquariate, kurz ZVAB, ließ sich problemlos Lesesnachschub dieses Autors in die Saaletalklinik schicken und mit dem Café-Pavillon "Avanti" hatte ich schon mit dem ersten Besuch einen wunderbaren Ort gefunden, an dem ich lesen, mit den Augen flanieren und schreiben konnte. Sehr bald kam ich ins Gespräch mit den beiden Betreibern des Cafés, Branco und Zorro, hin und wieder bediente mich auch Zorros Frau Anica. Bald erfuhr ich, dass die Familie während des Balkankrieges vor zwanzig Jahren aus Serbien gekommen war und seit zehn Jahren diesen Pavillon am Bad Neustädter Marktplatz betreibt, manchmal ist auch die Mutter der beiden da, oder die beiden kleinen Söhne von Zorro. Also so familiär wie in italienischen Bars.
Der Platz erwies sich also sehr schnell als ein genius loci für mein ambitioniertes literarisches Vorhaben. Da ich fast jeden Tag dort war, erlebte ich das Leben und Treiben auf dem Marktplatz im Wochenverlauf und lernte so Bad Neustadt und die Bad Neustädter kennen. Als mich Branco einmal fast mitleidig fragte, wieso ich auch nachmittags immer nur Milchkaffee trinken würde und nicht etwas ein kühles Bier, nannte ich ihm den Grund meines Aufenthaltes in der Saaletalklinik, woraufhin er verstand und nur bedauernd fragte: "Wirklich kein Bier mehr?" Dies geäußerte Unverständnis wurde noch ungläubiger, als ich ihm verriet, dass ich seit fünf Jahren in München lebe und dies ist für Branco nun wahrlich die Bierhauptstadt Deutschlands.
Als ich nach fünfzehn Wochen abreiste, hatte ich eine Menge an Gläsern köstlichen Milchkaffes getrunken, einige Beiträge für den Kulturteil einer in Berlin erscheinenden Zeitschrift geschrieben und viele, viele Bücher von Richard Voss gelesen. Aber ich stellte schnell fest, dass dieses Café mit seinen gesprächsfreudigen Pächtern auch ein sehr wichtiger und beliebter Kommunikationspunkt in Bad Neustadt ist, wo man sich trifft, miteinander ins Gespräch kommt und so auch als Gast in dieser liebenswürdigen Stadt wirklich ankommt und angenommen wird.
Rom, Frascati und das Hier und Jetzt in Bad Neustadt
Der Saaletalklinik und ihren Mitarbeitern danke ich fünfzehn ertragreiche Therapiewochen, während derer ich in Mellrichstadt das Reiten kennen lernen durfte. Branco und Zorro danke ich für eine vorzügliche Gastfreundschaft, wie sie den Serben immer wieder zugeschrieben wird und die ich hier erleben durfte. Meine Lektüre entführte mich nach Rom, Frascati, Berchtesgaden, ins heimische München, ja sogar nach Ceylon und Indien. Von der Lektüre aufblickend, war ich dann wieder im Hier im Jetzt von Bad Neustadt.
Hin und wieder entdeckt ich auch die gertenschlanke romanische Schönheit irgendwo auf dem Platz, nur leider nie in Brancos und Zorros Café . Diese fast traumhafte Durchdringung von Vergangenheit und Gegenwart macht auch den Zauber von Bad Neustadt aus - den ich nicht vergessen werde.