zurück
MEININGEN
Am Rande des Höllenschlunds
Szenenfoto aus Mutter Courage und ihre Kinder: (von links) Anna Krestel, Phillip Henry Brehl, Christine Zart und Sven Zinkan.
Foto: marie Liebig | Szenenfoto aus Mutter Courage und ihre Kinder: (von links) Anna Krestel, Phillip Henry Brehl, Christine Zart und Sven Zinkan.
sis
 |  aktualisiert: 07.11.2019 23:47 Uhr

„Ihr Hauptleut', lasst die Trommel ruhen, und lasst euer Fußvolk halten an.“ Sie kommen! Mutter Courage und ihre Kinder. 66 Jahre mussten die Meininger warten, bis die Marketenderin aus dem Dreißigjährigen Krieg ins Tal der Werra zurückkehrte, im 60. Todesjahr Bertolt Brechts. Warum sie erst jetzt wieder auftaucht und nicht schon zu Zeiten des sozialistischen Realismus gefragt war, wäre eine eigene Geschichte wert.

Anna Fierling aus Bamberg, genannt Mutter Courage, schleppt inzwischen keinen zerfledderten Planwagen hinter sich her, sondern erscheint mit einem sanft rollenden Gittercontainer, der sich in einer Reihe anderer Container von Ausstatter Klaus Werner Noack gut zu Wagenburgen in verschiedensten Positionen ordnen lässt.

Überleben

Mutter Courage hat nicht nur gute Schuhe im Angebot und Schnaps und Wein und dürre Kapaune, sondern Waffen, Raketenwerfer, Munition und eine Kiste Plutonium. Alles für die ungebrochen kriegslüsternen Hauptleut und ihre Soldateska. Alles, um vom Krieg zu leben und im Krieg zu überleben – Kriegswirtschaft im Wandel der Zeit also, Version 2.0 fürs Fußvolk. Jedenfalls so, wie die junge Regisseurin Jasmina Hadžiahmetoviae, die in Sarajewo aufgewachsen ist, Brechts Botschaften versteht. Sie dürfte am eigenen Leib erfahren haben, was Krieg und Flucht bedeuten.

Nicht Therese Giehse, die Urmutter, nicht Helene Weigel, die furchterregend unbeugsame Gralshüterin, ziehen den Karren in Meiningen durch den Dreck aus tausend Kriegen, sondern Christine Zart, eine der wenigen Urmuttertauglichen des neuen Meininger Theaters, mit einer zwar manchmal zu dünnen und zu schnellen Sprechstimme, aber mit einer beeindruckenden Mimik und mit einer Rockröhre, die Brechts Songs zu Paul Dessaus Musik durch Mark und Bein dringen lässt: „Kanonen auf die leeren Mägen / Ihr Hauptleut, das ist nicht gesund. / Doch sind sie satt, habt meinen Segen / Und führt sie in den Höllenschlund.“

Im Schlepptau der Mutter bewegen sich ihre drei Kinder, die sie an den Krieg verlieren wird: Sven Zinkan als nassforscher Eilif, Phillip Henry Brehl als grundehrlicher Schweizerkas und Anna Krestel als empfindsame, stumme Kattrin. Die Geschichte lebt natürlich vor allem von den Begegnungen mit dem lüsternen Koch (Michael Jeske), dem Wendehals von Feldprediger (Hans Joachim Rodewald), der wandlungsfähigen Prostituierten Yvette (Meret Engelhardt) und der brutalen Soldateska (Vivian Frey, Matthias Herold, Reinhard Bock).

Ein spannender Abend. Virginia Breitenstein-Krejeík (Leitung) und Jan Schamberger kreiieren mit Synthisizerklängen und E-Gitarrensound eine kongeniale Tonsprache. Manche Passagen erscheinen mit dramaturgisch in die Länge gezogenen Szenen allerdings ziemlich bald öde – zum Beispiel der nicht enden wollende musikalische Prolog einer Zombie-Combo. Das epische Theater Brechts als Ort der Demonstration und Belehrung des Publikums, in dem Unterhaltung nur dazu dient, das Volk in die Stätte der Aufklärung zu locken, dieses epische Theater war einmal. Inzwischen schwirren Tag für Tag unzählbar viele erschütternde Kriegsbilder durch Kopf und Gemüt der Zuschauer, dass deren immerwährende Betroffenheit für zehn Leben und zehn Tode reichen müsste. Die Konsequenz ist eher Verdrängung als Bewusstseinserweiterung. Und seien wir ehrlich: Wüssten wir, die so glücklich über Jahrzehnte vom Krieg verschonten Mitteleuropäer, wie wir unsere Haut retten würden, wenn wir in der Hölle eines Krieges vegetieren müssten?

Diese Frage zu provozieren, ohne Antworten zu liefern und ohne das Leben der kleinen Kriegsgewinnler, Kriegstreiber und Opportunisten bemitleidenswert zu machen – diese Frage zu provozieren, ist das wesentliche Verdienst der Inszenierung.

Ohne Worte

Einzig bejammernswerte Gestalt auf der Bühne ist die stumme Kattrin. Die vergeblichen Versuche, ihre Not dem Publikum mit Zeichensprache verständlich zu machen, symbolisieren mehr als eine individuelle Geschichte: Sie symbolisieren das Unvermögen des Menschen, die Verrohung seiner Spezies in all ihren Variationen in Worte zu fassen.

Die Vergnügungssektion im Publikum wird nach der Vorstellung irritiert nach Hause gehen. Die Verfechter des Brechtschen Theaters, die eigens für diesen Abend ihre leicht verstaubten Belehrungsthesen aufpoliert haben, dürfen sie wieder einstauben lassen. Und jene, die ohne konkreten Masterplan ins Theater gekommen sind, werden hie und da gähnen, aber auch darüber nachdenken, was wäre, wenn sie selbst mit einem Planwagen durch eine reale Kriegslandschaft ziehen müssten.

Nächste Vorstellungen: 14. September, 19.30 Uhr, 2. Oktober, 19 Uhr, 23. Oktober und 13. November, jeweils 15 Uhr. Karten: Tel. (0 36 93) 451 222, www.das-meininger-theater.de

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Mellrichstadt
Bertolt Brecht
Helene Weigel
Therese Giehse
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen
Kommentare
Aktuellste
Älteste
Top