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MEININGEN
Am kürzeren Ende der Sonnenallee
Plattenbauten der anderen Art: Die Handlung des Stücks „Sonnenallee“ spielt vor einer Bühnenbildwand aus unzähligen Schallplatten.
Foto: Foto-Ed | Plattenbauten der anderen Art: Die Handlung des Stücks „Sonnenallee“ spielt vor einer Bühnenbildwand aus unzähligen Schallplatten.
Von unserem Mitarbeiter Siggi Seuß
 |  aktualisiert: 07.11.2019 20:05 Uhr

Man muss sich die Augen reiben nach der Vorstellung: „Wie schaffen die jungen Töchter und Söhne das?“ Nach zwei Stunden Spiel singen sie noch zweimal voller Inbrunst den DDR-Kultschlager „Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael“. Diese Generation Smartphone dürfte doch eigentlich gar nicht mehr wissen, was ein Farbfilm ist, geschweige denn, was damals in der DDR geschah!

Drei Hüte ab vor dem, was das Ensemble des Jungen Theaters auf der Bühne der Meininger Kammerspiele abendfüllend zum Leben erweckt. In Regie der Theaterpädagogin Gabriela Gillert hatte die „Sonnenallee“ Premiere, ein Stück nach dem Film von Leander Haußmann und Thomas Brussig. Das erste „Hut ab“ gilt der Spielfreude und der Spielkunst der Akteure. Das sind nicht – wie man meinen könnte – junge professionelle Schauspieler, sondern Laiendarsteller: 14 Schülerinnen und Schüler im Alter von zwölf bis 18 Jahren und zwei Erwachsene. Der Rezensent hat bisher selten eine so stimmige, lustvoll-leidenschaftlich gespielte und pfiffige Laientheaterinszenierung gesehen, trotz einiger vermeidbarer Längen. Selbst kleine Missgeschicke werden selbstironisch überspielt, und dass aus Rosa Luxemburg mehrfach eine Rosa Luxemberg wird – na ja, Ohren zu und durch.

Zweites „Hut ab“: Man muss sich vor Augen führen, dass hier junge Leute am Werk sind, die die Zeit, in der die Geschichte spielt – 1973 in Ost-Berlin –, wenn überhaupt, nur aus Büchern, Spielfilmen und Dokumentationen kennen. Zudem kommen vier Akteure aus dem Landkreis Rhön-Grabfeld, von den Gymnasien in Bad Neustadt und Mellrichstadt. Man kann vermuten, dass in der Elterngeneration West das Wissen über das „Damals in der DDR“ im Vergleich zu den Eltern Ost eher bescheiden war. Und trotzdem finden die jungen Leute einen schlauen Zugang zur Geschichte vom Leben Jugendlicher im Schatten des antifaschistischen Schutzwalls, rund um das kürzere Ende der Sonnenallee (das längere Ende lag jenseits der Mauer im Westen).

Da steht er verloren am Bühnenrand – ganz der Jungmann und FDJler, der er sein soll, der Bad Neustädter Kenan Gohlke in der Rolle des jungen Helden Michael Ehrenreich, und stellt sich die Frage: Soll er sich drei Jahre zur NVA melden oder nicht? Er steht da, mit einem tragbaren Kassettenrecorder made in DDR unterm Arm, die Rolling Stones startbereit auf dem Tape und den ABV, den Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei, im Nacken. Zwar entschuldigt sich Kenan sofort, er sei ja eigentlich nicht in jener Zeit zu Hause, aber er könne sich durchaus vorstellen, mal zwei, drei oder vier Jahre dort gelebt zu haben. Und schon werden er und sein Forscherteam aus jungen Zeitreisenden hineingezogen in die Handlung, die sich vor einer Bühnenbildwand aus unzähligen Schallplatten (Plattenbauten!) ereignet.

Wenn es der Wahrheitsfindung dient, treten Micha, seine Kumpel Mario und Wuschel (Marten Straßenberg und Justin Spiegel) oder jemand aus der blauhemdigen FDJ-Riege aus ihren Rollen heraus und erklären den Zuschauern, was ein „Mufuti“ ist – ein Multifunktionstisch – oder eben ein ABV.

Die Ideen zur Ausstattung, auch zur originalgetreuen Kleidung aus den 70er Jahren, stammen von Gloria Dittmar, die zudem Michas angebetete Traumfrau Miriam spielt. Gloria kommt übrigens aus Dorndorf bei Bad Salzungen. Die Mühen der jungen Leute aus der thüringisch-fränkischen Region, aus Meiningen, aus Suhl, aus Bad Neustadt, Hohenroth Mellrichstadt und Schönau, die Mühen, neben Schule und Privatleben die intensive Probenarbeit zu bewerkstelligen, das ist ein drittes„Hut ab“ wert.

Wie aber kann es sein, dass eine Handlung, die Weltschmerz und Sinnsuche einer fernen Jugend in einem Land vor unserer Zeit in den Mittelpunkt stellt, doch in manchen Szenen so nahe am Leben erscheint, auch wenn viele Gags zur Freude des Publikums völlig überdreht daherkommen? Ein Schlüssel zur Antwort liegt, zum Beispiel, in der Schuldisco-Szene, in der der schüchterne Micha von seinen Kumpels zu den Klängen des Puhdy-Hits „Geh zu ihr, lass deinen Drachen steigen“ in Richtung Miriam geschoben wird: Es sind die unverwüstlichen, zeitlosen Grundstimmungen von jungen Menschen in ihrer „Coming of Age“-Zeit, die die Laienspieler so herzerfrischend lebensnah zelebrieren.

Wenn Unterricht genauso spannend, intensiv, humorvoll und lebendig wäre wie diese alternative Geschichtsstunde – das deutsche Bildungssystem wäre über kurz oder lang nicht wiederzuerkennen. Den Schülern und Lehrern in der Region sei – ab der Mittelstufe – ein Besuch der „Sonnenallee“ ans Herz gelegt.

Vorstellungen in den Kammerspielen: 28. Juni, 2. und 7. Juli, jeweils 20 Uhr. Karten: Tel. (0 36 93) 451 222 oder -137. www.das-meininger-theater.de

 
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