Wie soll man beginnen, wenn vom Mannsein die Rede sein soll und davon, was es heißt, von einer gewissen Cup-Größe zu träumen, aus der dann doch nichts wird?
Was in meinem Fall aber ein Geschenk ist. Ein BH kann nämlich ein Alptraum sein, wenn man 42 Jahre als Mann auf dieser Welt verbracht hat und mit einem Mal eine Oberweite innerlich akzeptieren soll, die der Stabilisierung bedarf.
Zugegeben, ich war einige Tage fixiert auf dieses eine Thema Oberweite, damals im Januar, als der Anruf kam. Ausfall beim Schmalwasserer Männer-Ballett. Es wird knapp. Ob ich nicht. . . Das ganze Projekt ist gefährdet. . . . Vor Schreck sagte ich zu.
Die zentralen Aussagen der Gattin lasse ich unzitiert, wir beschränken uns auf die Schilderung eines ausgiebigen Kopfschüttelns. Ein Zurück gab es nur um den Preis der gesellschaftlichen Ächtung im Dorf. Als Ausnahmeeinsatz ging die Sache schließlich durch den Familienrat.
Erster Probenabend im Sportheim von Schmalwasser: Die neun Profis haben seit November ihren Tanz studiert, entsprechend gelassen geben sie sich zwei Wochen vor dem Faschings-Samstag.
Wie es unter Frauen üblich ist, wird natürlich etwas aufeinander herumgehackt. Achim giftelt nicht ganz ernst gemeint über Raimund, weil angeblich irgendein Einsatz nicht gepasst habe, was dieser jedoch schroff zurückweist. Schließlich beanspruchen beide für sich, dem Schmalwasserer Männer-Ballett lange genug die Treue gehalten zu haben und also Routine zu besitzen.
Zehn Jahre gibt es das Ensemble, seit dieser Zeit betreuen Sonja Markert und Carmen Zehe die lustige Truppe. Und zwar mit strengem Regiment, wenn es sein muss. „Bei Vier müssen die Hände nach links und nicht nach rechts“, moniert Ballett-Chefin Sonja, die sich die Choreografie für den diesjährigen Auftritt wie in jedem Jahr selbst ausgedacht hat.
Es gibt Röcke zu sehen und vielleicht einen Blick darunter. Aber es sind züchtige Schottenröcke, die vom Männerballett präsentiert werden. Geprobt wird in Jeans oder Jogginghosen.
Von den Boxen dröhnt die rockig-schottische Musik. Die Männer ziehen auf die knarzende Bühne, die Gertenschlanken ebenso wie die etwas Stämmigeren. 18 Füße und noch einmal so viele Hände müssen in Gleichklang kommen. Das klappt heute noch nicht mit letzter Präzision, was der Stimmung aber keinen Abbruch tut.
Tom lächelt mit rotem Kopf hinüber zum Kollegen Steffen, Tobias kichert beim Anblick eines Ungenannten, nur Johannes und Raimund bewahren den nötigen Ernst, weil ihnen und Tom eine tragende Rolle zukommt: Kurt wird von ihnen auf Händen getragen in einem inneren Kreis. In einem äußeren Kreis drehen sich die sechs Kollegen entgegengesetzt in anderer Richtung. Von manch hoher Stirn kugeln Schweißtropfen herunter. Kurt wird gebogen, weil sich die Träger nicht über die Richtung einig sind.
„Ich muss die Körperspannung halten, sonst klappt es nicht“, schnauft Kurt, der sich da oben ebenfalls anstrengen muss. Die Pause ist aber nah, Johannes hat Hausmacherwurst aus Thüringen mitgebracht. Sportvereins-Vorsitzender und Ensemblemitglied Dirk stoppt den CD-Player.
Zweiter Probenabend: Ich soll erfahren, was sich hinsichtlich meiner Verweiblichung tun wird. Ich halte den Atem an. „Du machst am besten die Heidi“, sagt Sonja Markert. Alptraum-Gespinste von der Vollbusigkeit zerfallen in Glück. Eine Heidi, das ist machbar. Heribert, mein Nachbar, ist die andere Heidi. Ich habe nicht einmal ein Gefühl von Scham.
Die Heidi-Titelmelodie erklingt, für einen leidgeprüften Vater ist das Heavy Metal. „Den rechten Arm in die Taille und mit dem anderen winken“, befiehlt Heribert. Wir tänzeln auf die Bühne und drehen uns mit eingehängten Armen. 50 Sekunden dauert die Geschlechtsumwandlung für das Männerballett-Potpourri zum Zehnjährigen der Schmalwasserer Truppe. Alle Kostüme der vergangenen Dekade sollen gezeigt werden, Sonja Markert hat sie gesammelt. Ortssprecher Hermann hat Honig zum Laib Brot mitgebracht. Ich beiße herzhaft hinein wie nach einem überstandenen Martyrium.
Bei der dritten Probe bekommen Carmen und Sonja einen Strauß Blumen und eine Essenseinladung für ihren Dienst. Ich bekomme ein weiteres Kostüm. Für das Potpourri gibt es nicht genug Ehemalige. Außer Heidi muss ich auch noch eine heiße Lady in Lack und Leser machen und zu „We will rock you“ die Faust ballen. Ich wünsche eine globale Katastrophe herbei, damit Fasching bundesweit in letzter Minute abgesagt wird.
Der Faschingssamstag ist gekommen: Mein Puls in der Umkleide pocht hart gegen das dünne Heidi-Kostüm, Schwaden von Männerschweiß verstärken die Platzangst im überfüllten Raum. Die neun Schotten ziehen nach oben, dort johlt sogleich die Menge. Ich fühle mich wie ein Gladiator vor seinem letzten Kampf, weniger wie Heidi in der Obhut des Alm-Öhi. Das rote Röckchen weht im Wind, der Angstschweiß saugt sich in das viel zu enge, weiße Rüschenhemd, unter dem etwas Bauch ungezügelt hervorquillt. „Es geht los“, ruft Sonja.
Ein Rücktritt kommt für mich nicht in Frage. Ich stürme nach oben, Heribert zwinkert mir aufmunternd zu. Der Auftritt ereignet sich in einem einzigen Rausch. Ich werde angegrinst, ich höre Lacher. Alles jubelt in schierer Begeisterung. Noch nie wurde mein Äußeres derart einhellig gutgeheißen, auch als Rockröhre werde ich bejubelt. Ein vollkommen neues Erlebnis. Aus dem Lampenfieber wird schieres Glück. Ich weiß jetzt: Die tollsten Frauen müssen Männer sein.