Der Hahn kräht um 5.45 Uhr das „Guten Morgen“ vor der Rettungswache des Roten Kreuzes Bad Neustadt. Der Hahn, von seinen Kollegen nur „Chicken“ genannt, heißt mit Vornamen Mario, ist stellvertretender Wachleiter und diesen Montag zur Frühschicht im Rettungsdienst eingeteilt. Ob der Morgen tatsächlich gut wird, weiß er noch nicht. „Im Rettungsdienst kannst Du nichts planen.“
Seit 15 Jahren arbeitet der 36-jährige Rettungsassistent, der ursprünglich Elektriker gelernt hat, hauptberuflich für das Rote Kreuz Bad Neustadt. Den RK/NES 71/1, seinen Einsatzwagen an diesem Montag, fährt der 27-Jährige Martin Mangold, der seit seinem Zivildienst 2006 etwa zwei Mal im Monat ehrenamtlich als Rettungssanitäter fürs Rote Kreuz Schichten übernimmt. „Es freut mich, wenn ich Patienten helfen kann. Das ist ein schönes Gefühl am Ende des Tages“, sagt der der 27-Jährige, der gerade sein Elektrotechnik-Studium beendet hat.
Von solch hehren Taten jedoch sind Hahn und Mangold kurz nach Schichtbeginn weit entfernt. Der Piepser schweigt, die Alarmglocke schläft, ein ruhiger Morgen. Im Rettungswagen sind sie mit Tages- und Wochencheck beschäftigt, füllen Medikamente auf, prüfen Verfallsdaten, untersuchen technische Geräte. Ein Haken nach dem anderen wird so auf der Liste gesetzt, fast zwei Stunden lang.
„Das Warten kann einen kirre machen“, gesteht Hahn. Aber so sei nun mal der Job. In einer Sekunde von Null auf 110 Prozent. „Mal passiert nichts, mal brennt's in der neurologischen Klinik und man ist der erste vor Ort.“ Nachts ist das besonders schwierig. Hahn hat es sich abgewöhnt, sich während der Nachtschicht hinzulegen. Sein Körper, sagt er, macht diesen abrupten Wechsel nicht mit. Ist ein guter Tag im Rettungsdienst also ein Tag voller Einsätze? „Gut ist ein Tag,“ sagt Hahn, „wenn ich alles gegeben habe, was in meiner Macht stand, um dem Patienten zu helfen.“
110 Prozent Einsatz reichen nicht immer: „Zum Leben gehört manchmal auch der Tod“, so der 36-Jährige. „Ich habe mit Menschen zu tun, da gibt es schöne, aber auch traurige Momente.“ Von der Geburt bis zur Reanimation ist jeden Tag alles drin.
Im Freundeskreis hört er oft den Satz: „Ich könnte das nicht.“ Manche müssen's können. Hahn hat das Glück, dass ihm der Job auch noch Spaß macht. „Wir haben alle ein bisschen das Helfersyndrom“, versucht er eine Erklärung. Natürlich sieht man Dinge, die einen so schnell nicht wieder loslassen. Das seien nicht immer große Horrorszenarien. In Hahns Kopf beispielsweise spuken Kassetten und Notenblätter. Die hingen einmal im Baum, als er zu einem Verkehrsunfall kam. Überlagert werden solche Bilder aber immer wieder auch von schönen Erlebnissen. Hahn denkt etwa an „den kleinen Zwerg“, der in seinem Rettungswagen auf die Welt kam.
9.19 Uhr: Der Pausen-Kaffee ist frisch eingeschenkt, da wird es laut. Schrill tönt der Alarm durch die Rettungswache. Hahn und Mangold bleiben bei aller Eile ruhig. Die Zeiten, in denen sein Herz bei jeder Alarmierung raste, seien schnell vorbei gewesen, wird der Ehrenamtliche später erzählen. Jetzt schwingt er sich auf den Fahrersitz: Verdacht auf Schlaganfall in einem Bad Neustädter Stadtteil.
Die Zeit rennt, die Sirene heult, Mangolds Fuß tritzt das Gaspedal, Beifahrer Hahn streift Gummihandschuhe über, Passanten starren, ein Autofahrer hält mitten in der Ausfahrt, Sekunden verrinnen, bis er den Weg frei gibt, Anfahren, Kurven, abruptes Bremsen. Um 9.22 Uhr haben sie ihre Zieladresse erreicht – die zurückgelassenen Kaffeetassen auf der Wache dampfen da noch.
Das fremde Haus betreten Hahn und Mangold fast gleichzeitig, die schwere Ausrüstung – Notfallrucksack, EKG- und Beatmungsgerät sowie Absaugpumpe – in der Hand und über der Schulter. Hoffnung und Angst springt ihnen entgegen, die Töchter der Patientin führen sie zur Mutter. Die ist zumindest schon mal ansprechbar, wenn auch mit lädierter Nase. Übelkeit, Durchfall, Schwindel, Sturz. Bei ihrem letzten Schlaganfall war’s genauso.
Die Aufteilung ist klar: Hahn spricht, Mangold handelt. Anamnese heißt das, wenn der Sanitäter versucht, die Leidensgeschichte des Patienten zu erfragen, um zu einer Verdachtsdiagnose zu kommen. Schlaganfall oder Magen-Darm? Mangold misst derweil Blutdruck, Sauerstoffsättigung und Blutzucker, legt das EKG-Gerät an.
An dieser Stelle könnten sie einen Notarzt anfordern. Wenn Medikamente verabreicht werden müssen, ist nur dieser per Gesetz dazu berechtigt. Geht es um Leben und Tod und kein Arzt ist in Sicht, dürfen Hahn und Mangold trotzdem handeln. Notkompetenz heißt das und ist in Hahns Augen ein rechter Notnagel. „Rechtlich gesehen stehen wir da immer mit einem Bein im Knast.“ Er würde sich klarere Gesetze und mehr Spielraum für die Sanitäter wünschen.
An diesem Montag ist der Fall eindeutig, die Dame ist stabil – definitiv keiner der etwa drei Notarzt-Einsätze pro Tag, die es laut Hahn auf der Bad Neustädter Rettungswache gibt. Von Entwarnung jedoch keine Spur. „Der Schlaganfall ist tückisch, weil er nicht schmerzt.“ Wegen des Schwindels geht Hahn auf Nummer sicher. „Neurologie, Rhön-Klinikum“ gibt er der Leitstelle telefonisch das Zielkrankenhaus durch.
Während die Frau mit Blaulicht nach Herschfeld transportiert wird, sind die in Anamnese und Untersuchungen erhobenen Daten dank „Stroke Angel“ längst dort. Eine spezielle Software ermöglicht es dem Rettungsassistenten, diese bereits am Notfallort per Funk ans Zielkrankenhaus zu übermitteln.
Um 10.18 Uhr schon liegt bei Hahn und Mangold der nächste Patient auf der Trage. Die Frau mit Schlaganfall-Verdacht ist in RK/NES 71/1 bereits Vergangenheit. „Das ist ein Problem an unserem Beruf“, sagt Hahn, „wir bekommen nie mit, wie es mit dem Patienten weitergeht.“
An diesem Tag ist das anders. Gegen Mittag, nach diversen Rettungswagentransporten und einem Notfalleinsatz wegen Herzrhythmusstörungen hören sie per Zufall den entscheidenden Funkspruch: Kollegen sollen besagte Dame in die Kreisklinik verlegen. „Also doch kein Schlaganfall“, Hahn klingt erleichtert. Diese Geschichte zumindest hat ein Ende.
Daten & Fakten
Notrufnummer 112: Seit Ende Juli 2012 hat die 112 bayernweit die alte Notrufnummer 19222 abgelöst, erklärt Richard Rockenzahn, stellvertretender Rettungsdienstleiter im Landkreis Rhön-Grabfeld. Vorteil der 112: Sie kann am Handy auch ohne Vorwahl gewählt werden und ist kostenfrei. Notrufe aus Rhön-Grabfeld gehen bei der Integrierten Leitstelle des Bayerischen Roten Kreuzes in Schweinfurt ein, die auch für die Feuerwehralarmierung zuständig ist. Von dort wird das nächstgelegene Rettungsfahrzeug alarmiert.
Der Notruf: Wichtig ist es, die „W-Fragen“ zu beantworten und eine Rückrufnummer für Rückfragen zu hinterlassen. Rockenzahns Credo: „Lieber einmal zu viel einen Notruf absetzen als einmal zu wenig.“ Der Rhöner warte eher zu lange.
Ausstattung im Rettungsdienst: Im Landkreis arbeiten 40 Hauptamtliche und 70 Ehrenamtliche. Rund um die Uhr wird je ein Rettungswagen in Bad Neustadt, Bischofsheim, Nordheim und Bad Königshofen vorgehalten. Zwischen 8 und 22 Uhr steht ein weiterer Rettungswagen an der Autobahnmeisterei in Rödelmaier. „Spitzen können jederzeit bewältigt werden“, so Rockenzahn, weil das Rote Kreuz viele Ehrenamtliche und Fahrzeuge in der Hinterhand hat (Schnelle Einsatzgruppe, Katastrophenschutz), die die öffentlich-rechtliche Vorhaltung unterstützen können. Allerdings kämpft das Rote Kreuz seit Wegfall des Zivildienstes mit Nachwuchsproblemen.
Hilfsfrist: 80 Prozent der Notfälle im Versorgungsbereich der Rettungswagen müssen, so sieht es das Bayerische Rettungsdienstgesetz vor, in einer Fahrzeit von zwölf Minuten erreicht werden. Ist das häufiger nicht der Fall, spricht das Institut für Notfallmedizin und Medizinmanagement der Universität München Empfehlungen für Umstrukturierungen aus.
Zielkrankenhaus: In welches Krankenhaus der Patient eingeliefert wird, entscheidet der Notarzt. Ist es ein Einsatz ohne Notarzt, dann ist dies Aufgabe des Rettungsassistenten. Entschieden werde häufig auch in Rücksprache mit dem Patienten. Stellt sich bei der Rückfrage im Krankenhaus heraus, dass kein Bett frei ist, muss das nächste aufnahmebereite Krankenhaus angefahren werden. Bei öffentlichen Häusern sind Zwangsbelegungen möglich.
Art der Einsätze: Rund 70 Prozent der Rettungsdiensteinsätze im Landkreis, so Rockenzahn, sind internistische Notfälle, also beispielsweise Herzinfarkte, Schlaganfälle, Alkoholintoxikationen. Die anderen 30 Prozent sind Notfälle chirurgischer Art. 25 Prozent davon gehen auf Unfälle im Haushalt zurück, nur etwa fünf Prozent auf Verkehrsunfälle.
Einsatzaufkommen: In Rhön-Grabfeld gibt es im Rettungsdienst rund 16 000 Einsätze im Jahr. Von diesen sind circa 7200 Notfalleinsätze, davon wiederum rund 50 Prozent Notarzteinsätze. Weiter kommen 6100 Krankentransporte dazu, rund 450 arztbegleitete Patiententransporte sowie 2400 sonstige Einsätze wie Gebietsabsicherungen, Leerfahrten.