
Groß war das Interesse an der Theateradaption von Juli Zehs Bestseller „Über Menschen“ , den die Badische Landesbühne in einer eigenen Fassung von Intendant und Regisseur Wolf E. Rahlfs in der Tauberbischofsheimer Stadthalle in Szene setzte. Das siebenköpfige Personal, das abwechselnd in die Rolle des Erzählers schlüpfte, war überschaubar. Doch wer den Roman gelesen hatte, tat sich naturgemäß etwas leichter, der zu Beginn des ersten Lockdowns während der Covid-19-Pandemie spielenden Handlung im 285-Seelen-Dorf Bracken in der brandenburgischen Provinz zu folgen.
Das Stück thematisiert die Kluft zwischen Stadt und Land mit unterschiedlichen Lebensrealitäten und Weltanschauungen. Erzählt wird aus der Perspektive der Hauptfigur Dora. Die kinderlose Werbetexterin ist vor ihrem Lebensgefährten Robert, einem Klima-Apokalyptiker und verbissenen Weltverbesserer, aus dem gemeinsamen „Home office“ in Berlin geflüchtet. Für einen Neustart hat sie sich in Bracken ein marodes Haus gekauft, das sie zusammen mit ihrer Hündin „Jochen-der-Rochen“ bewohnt. Doras fast ungeteilte Aufmerksamkeit gilt den Corona-Skeptikern und AfD-Wählern in ihrer neuen Wahlheimat; vor allem aber dem neuen Nachbarn Gote, der in einem Bauwagen im Garten haust, während seine muntere zehnjährige Tochter Franzi im verwahrlosten Hause nächtigt. Der wortkarge Gote stellt sich unverblümt als „Dorfnazi“ vor und leert mit seinen Freunden gerne Bierkästen und grölt mit ihnen ungeniert im Freien das Horst-Wessel-Lied.
Brisante Themen
Mit Bedacht hat hier die Landesbühne vorgesorgt. Ausdrücklich weist sie im Vorfeld darauf hin, dass „rassistische, homo- und frauenfeindliche Sprache sowie rechtsextreme Ideologiefragmente und nationalsozialistisches Liedgut reproduziert“ und „Gewalt gegen Minderheiten und politisch Andersdenkende“ thematisiert wird. Etwas gestelzt kündigt sie zudem an, dass „Rauchwaren zum Einsatz“ kommen.
Die Autorin Juli Zeh kämpft entschieden gegen Vorverurteilungen und Klischees über das triste Landleben im Osten an. Es gehört zu den anrührenden Momenten des Stücks, als die emanzipierte Dora mit dem vermeintlichen Kotzbrocken Gote ins Gespräch kommt und beide den Abend am Grenzzaun mit einer genussvoll gerauchten Zigarette ausklingen lassen. Denn im Grunde seines Herzens mag Gote seine neue Nachbarin gut leiden, für die er unaufgefordert Wände streicht, Helfer zum Umgraben von Doras Kartoffelacker besorgt und sogar ein Klappbett organisiert. Seine Tochter Franzi freut sich über jede Begegnung mit Doras Hund.
Ausgeprägter Fremdenhass
Wenn da bloß nicht Gotes ausgeprägter Fremdenhass wäre, der sich etwa gegen portugiesische Gastarbeiter im Dorf austobt. Anfangs überwiegt die Skepsis der weltoffenen Nachbarin. Wegen eines tätlichen Angriffs auf ein Mitglied der Antifa kam er sogar schon einmal ins Gefängnis. Nicht ganz in Doras bisheriges Weltbild passt auch Heini, der „Serien-Griller“, wie auf dem T-Shirt zu lesen ist, der mit rassistischen Witzen aufzufallen versteht. Eher stehen ihr Tom und Steffen näher, ein homosexuelles Paar, dass sich mit Blumensträußen und Kränzen seinen Lebensunterhalt verdient. Beide offerieren am Ende der arbeitslosen Doris einen Job im Online-Blumenhandel.
Gote wird durch einen bisher unentdeckt gebliebenen Gehirntumor von der besorgten Dora zu ihrem Vater Joachim „Jojo“ geschickt, der als Professor an der Berliner Charité eine gründliche Untersuchung veranlasst und für Medikamente zur Linderung der Schmerzen sorgt. Spätestens jetzt fragt sich Dora, ob man es sich nicht zu leicht macht, wenn man sich gegenüber Menschen aus der sogenannten Unterschicht für etwas Besseres hält. Ein Schlüsselsatz von Gote bleibt an diesem Abend im Gedächtnis: „Wir sind nicht das, was andere von uns denken.“
Keine Ausgrenzung
Dass sich Dora in der bunt zusammengewürfelten Dorfgemeinschaft angenommen fühlt, wird bei dem Dorffest gezeigt, das den schwer erkrankten Gote mit Herzenswärme einbezieht. Zumindest an diesem Abend gibt es kein „Oben“ oder „Unten“, „Rechts“ oder „Links“, „Ost“ oder „West“. So unterschiedlich viele Ansichten sein mögen, ausgegrenzt wird niemand. Ein tröstlicher Traum, den man zumindest im Theater erzählen kann. Der Ausgang einer sich allmählich trotz aller Gegensätze entwickelnden Love Story zwischen Dora und Gote bleibt in der Theaterfassung offen, während Zehs Roman mit dem bitteren Suizid und Begräbnis von Gote endet.
Nadine Pape verkörpert eine Dora, die unverdrossen an das Gute im Menschen glaubt und nicht die Bildungsbürgerin herauskehrt. Stattdessen hinterfragt sie eigene Vorurteile und ihre Feigheit, und mit ihrem entwaffnenden Pragmatismus und Empathie pulverisiert sie letztlich die rechtsradikale Gesinnung der Dorfbewohner. Martin Behlert spielt als Gote einen Rechtsradikalen, der dank Doras Unvoreingenommenheit fast mit Verblüffung einige gute Seiten bei sich entdeckt, die er in die Dorfgemeinschaft einzubringen vermag. Dank ihrer komödiantischen Ader und körperlichen Gewandtheit gelingt es Cornelia Heilmann mit Bravour, eine quirlige zehnjährige Franzi zu spielen, die mit ihrer Tierliebe wie ein Bindeglied zwischen ihrem Vater und Dora wirkt.
Tilo Langer ist mit Redemanuskript in der Rolle des Floristen Tom für den verhinderten Lukas Maria Redemann kein Fremdkörper. Nahtlos fügt er sich mit Tobias Gondolf als seinem Geschäftspartner und Lebensgefährten Steffen in das Ensemble ein. Ihr Motto: „In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht so leicht über die Menschen erheben.“ Diese Lehre zieht auch Jojo als Doras Vater, den Frank Siebers mit professoral-weltmännischer Attitüde auf die Bühne zaubert.Gegensätzlich agiert er in einer Doppelrolle als Heini beim Grillfest mit derben ausländerfeindlichen Witzen. Madeline Hartig spielt als Sadie eine junge Frau, die unter prekären Umständen nur mit Nachtschichten tagsüber ihre zwei Kinder versorgen muss. Dennoch findet sie die Zeit, der überraschten Dora Saatkartoffeln für den Garten zu schenken.
Insgesamt gelang eine theatergerechte Umsetzung des Romans, die vom Publikum mit langem Beifall honoriert wurde.