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Bad Mergentheim/Würzburg
Volkskrankheit Diabetes: Wie die tägliche Dosis Insulin das Leben ermöglichte
Vor 100 Jahren erhielt erstmals ein Patient eine Spritze Insulin. Psychologe Bernhard Kulzer vom Diabetes Zentrum Mergentheim über den Erfolg der Medizin – und die Hoffnung heute.
Lebenswichtiges, lebensrettendes Hormon: Kristalle von Insulin, dem Stoff aus der Bauchspeicheldrüse. Vor 100 Jahren wurde erstmals einem Diabetes-Patienten eine Dosis verabreicht.
Foto: Nasa , gemeinfrei | Lebenswichtiges, lebensrettendes Hormon: Kristalle von Insulin, dem Stoff aus der Bauchspeicheldrüse. Vor 100 Jahren wurde erstmals einem Diabetes-Patienten eine Dosis verabreicht.
Alice Natter
 |  aktualisiert: 15.07.2024 09:57 Uhr

Am 23. Januar 1922 bekam in Toronto ein 13-jähriger Junge als erster Diabetes-Patient weltweit erfolgreich Insulin gespritzt. Abgemagert auf 29 Kilo und kraftlos war Leonard Thompson ins Krankenhaus gekommen. Die durchschnittliche Überlebenszeit nach der Diagnose damals: neun Monate. Am 24. Januar erhielt der Junge noch einmal zwei Mal zehn Milliliter des neuen Extrakts – und seine Blutzuckerwerte normalisierten sich. Vorausgegangen war die Entdeckung und Extraktion des Insulins aus Rinderbauchspeicheldrüsen ein Jahr zuvor.

Eine Zäsur in der Medizin. Heute werden allein in Deutschland über 340 000 Erwachsene und 32 000 Kinder und Jugendliche, die an Diabetes Typ 1 erkrankt sind, täglich mit Insulin behandelt. Und dazu ein Teil der 8,5 Millionen Menschen mit Diabetes Typ 2 - häufig lebenslang.

Wie hat sich das Leben für Betroffene in den vergangenen 100 Jahren seit der Entdeckung der Insulintherapie verändert? Was sind heute für Patientinnen und Patienten noch die größten Probleme? Und was ist der nächste revolutionäre Sprung? Ein Gespräch mit Prof. Bernhard Kulzer über eine Erfolgsgeschichte der Medizin. Der gebürtige Würzburger ist Psychologischer Psychotherapeut, Fachpsychologe für Diabetes und Geschäftsführer des Forschungsinstituts der Diabetes-Akademie Bad Mergentheim. 

Prof. Dr. Bernhard Kulzer ist seit 1986 am Diabetes Zentrum Bad Mergentheim tätig. Seit 2007 leitet der 63-jährige Psychologe und Psychotherapeut aus Würzburg als Geschäftsführer das Forschungsinstitutes der Diabetes Akademie Mergentheim. 
Foto: Ludwig Niethammer | Prof. Dr. Bernhard Kulzer ist seit 1986 am Diabetes Zentrum Bad Mergentheim tätig. Seit 2007 leitet der 63-jährige Psychologe und Psychotherapeut aus Würzburg als Geschäftsführer das Forschungsinstitutes ...

100 Jahre Insulin! Welche Bedeutung hat der 23. Januar 1921, als zum ersten Mal einem Menschen Insulin gespritzt wurde?

Prof. Bernhard Kulzer: Obwohl die Symptome des Diabetes seit der Antike bekannt waren, war das vor hundert Jahren noch eine tödlich verlaufende Krankheit. Es gab keine Behandlungsmöglichkeiten. Nach einigen Rückschlägen bei der Herstellung und Anwendung des Insulins hat der schon vom Tod gezeichnete Junge Leonard Thomson von den kanadischen Ärzten Frederick Banting und Charles Best um 11 Uhr in Toronto die erste Insulinspritze erhalten, um 17 Uhr die zweite. Die Wirkung war großartig: Die Blutzuckerwerte sanken und dem Jungen ging es schon bald besser. Die Grundlage für eine wirksame Therapie des Typ-1-Diabetes war geschaffen.

Ab wann kannte man denn die Ursache von Diabetes?

Kulzer: Eigentlich erst ein Jahr vorher – durch die Isolierung von Insulin aus den Inselzellen der Bauchspeicheldrüse von Hunden im Juli 1921. Danach ging alles sehr schnell: Ein halbes Jahr später erfolgte bereits die Anwendung an Menschen, bereits 1923 erhielten die Forscher Frederick Banting und John Macleod für diese bahnbrechende Leistung den Nobelpreis für Medizin.

Am 27. Juli 1921 war dem Chirurg Frederick Banting (rechs) und seinem Assistenten, dem Physiologen und Biochemiker Charles Best, erstmals die Isolierung von Insulin aus der Bauchspeicheldrüse von Hunden gelungen. Sie legten damit den Grundstein für die erste wirksame Behandlung des Diabetes mellitus.
Foto: gemeinfrei | Am 27. Juli 1921 war dem Chirurg Frederick Banting (rechs) und seinem Assistenten, dem Physiologen und Biochemiker Charles Best, erstmals die Isolierung von Insulin aus der Bauchspeicheldrüse von Hunden gelungen.

Wie viele Menschen waren und sind davon betroffen?

Kulzer: Vor rund 100 Jahren gab es noch weit weniger Betroffene mit Diabetes, Patienten mit Typ-1-Diabetes verstarben bald. Aktuell gibt es in Deutschland schätzungsweise 341 000 Menschen im Erwachsenenalter mit Typ-1-Diabetes, hinzu kommen noch etwa 32 000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Jährlich erkranken rund 3 100 Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre neu an Typ-1-Diabetes, insgesamt steigt die Rate der Typ- 1-Diabetes-Neuerkrankungen derzeit jährlich um drei bis fünf Prozent. Viel häufiger gibt es in Deutschland den Typ-2-Diabetes mit 8,5 Millionen Betroffenen und weiteren 2 Millionen, die von ihrer Diagnose noch nichts wissen. Typ-2-Diabetes nimmt sehr stark zu – im Jahre 2040 werden es wahrscheinlich 11,5 Millionen sein.

Dass die Betroffenen mit Typ-2-Diabetes von der Erkrankung vielleicht gar nichts wissen, erst mal nichts merken – was heißt das?

Kulzer: Insgesamt gibt es in Deutschland weitere 13 Millionen Menschen, die ein erhöhtes Risiko oder bereits eine Vorstufe des Diabetes haben. Der Übergang ist fließend zwischen der Vorstufe, also einer Glukosetoleranz-Störung, und einem diagnostizierten Typ-2-Diabetes. Da erhöhte Blutzuckerwerte zu Beginn wenige Beschwerden verursachen, bemerken Betroffene häufig den Typ-2-Diabetes zu spät. Eine Untersuchung beim Arzt kann dar für Klarheit sorgen.

Ist der Grund für den Typ-2-Diabetes unsere Lebensweise?

Kulzer: Jein. Unbestritten führen Übergewicht, falsche Ernährung und mangende Ernährung vor allem zu einer Zunahme des Typ-2-Diabetes. Allerdings spielen auch eine erbliche Belastung für den Typ-2-Diabetes und das zunehmende Alter für steigende Zahlen des Typ-2-Diabetes eine Rolle. Paradoxerweise hat die steigende Lebenserwartung auch den Effekt, dass mehr Menschen im Alter noch an Typ-2-Diabetes erkranken.

Wie schnell hat hat sich die Behandlungsmöglichkeit mit Insulin vor 100 Jahren verbreitet?

Kulzer: Die Entdeckung des Insulins 1921 war ja wirklich ein Krimi. Und früher war man etwas heroischer: Die Entdecker wollten – wie Konrad Röntgen übrigens auch – dass sich ihre Entdeckung schnell weltweit verbreitet und damit nichts persönlich verdienen. Für einen symbolische Dollar haben sie alles Wissen an eine Stiftung übergeben – mit der Auflage, Insulin weltweit rasch Menschen mit Typ-1-Diabetes zugutekommen zu lassen. So konnten weltweit vielen Menschen das Leben gerettet werden. In Deutschland wurde daher schon ab 1922 in Frankfurt-Höchst das erste Insulin produziert.

Was bedeutete die Errungenschaft vor 100 Jahren konkret für die Patienten?

Kulzer: Damals hat es erst einmal bedeutet, dass Menschen leben und überleben konnten. Vorher galten sie als "moribundus", als dem Tode geweiht. Mit immer mehr modernen therapeutischen Möglichkeiten gelang es mit der Zeit immer mehr Menschen, ein Leben ohne größere Einschränkungen zu führen.

Und heute?

Kulzer: Heute können Menschen mit Diabetes ein Leben führen, welche ohne größere Einschränkungen im täglichen Leben geprägt ist und sich kaum von dem von Menschen ohne Diabetes unterscheidet. Aber wissenschaftliche Studien zeigen leider übereinstimmend, dass die Lebensqualität von Menschen mit Diabetes noch immer schlechter ist als bei Menschen ohne Diabetes. Ein Grund hierfür sind vor allen zahlreiche diabetesbezogenen Belastungen.

Was belastet die Betroffenen am meisten?

Kulzer: Am stärkten ist die Sorge vor den Folgeerkrankungen des Diabetes, gefolgt von Ängsten, Sorgen vor Unterzuckerungen. Auch wird das Gefühl, vom Diabetes gesteuert zu werden, im Alltag doch immer wieder Einschränkungen durch erhöhte, erniedrigte oder stark schwankende Glukosewerte zu erleben, belastend. Auch nervt es oft, sich ständig kontrollieren zu müssen: Wieviel man isst, wann und wie man sich bewegt und immer wieder den aktuellen Stand der Glukosewerte berücksichtigen zu müssen.

Ein Kind hält ein Blutzuckermessgerät in seinen Händen. In Deutschland erkranken immer mehr Kinder und Jugendliche an Diabetes mellitus Typ 1. 
Foto: Jörg Carstensen, dpa | Ein Kind hält ein Blutzuckermessgerät in seinen Händen. In Deutschland erkranken immer mehr Kinder und Jugendliche an Diabetes mellitus Typ 1. 

Die Hoffnung für die Zukunft?

Kulzer: Das große Ziel ist natürlich die Heilung des Typ-1-Diabetes. Zwar gab es in den letzten Jahren große Fortschritte in der Forschung, aber aktuell deutet nichts auf einen baldigen medizinischen Erfolg in diesen Bemühungen. Deshalb konzentriert man sich zurzeit auf eine technische Lösung. Im Einsatz sind Methoden der automatischen Glukosemessung, die kontinuierlich den Glukosespiegel im Blut erfassen. Diese werden von einem Algorithmus, einer Art Computerprogramm, verarbeitet und geben die Dosierempfehlungen an eine Insulinpumpe. Das ist ein kleines Gerät, das am Körper getragen wird und in kleinen Dosen – ähnlich wie die Bauchspeicheldrüse – Insulin ins Blut abgibt. Die ersten diese sogenannten AID-Systeme sind in Deutschland schon im Einsatz.

Das System dosiert das Insulin selbständig, ohne dass der Patient etwas tun muss?

Kulzer: Genau, das ist die das Ziel für die Zukunft. Im Moment trifft der Patient noch ungefähr die Hälfte aller Entscheidungen, die andere das Gerät. Der Anteil des Patienten soll zukünftig durch noch bessere Algorithmen unter Einbeziehung von künstlicher Intelligenz zur besseren Mustererkennung und die automatische Erkennung immer geringer werden. Schon jetzt bieten diese Systeme mit Warnfunktionen und automatischer Steuerung einen guten Schutz vor Unter- und Überzuckerungen. Auch zeigen Studien, dass die Diabeteseinstellung deutlich besser wird und die Belastungen von Menschen mit Diabetes geringer werden.

Wie fern ist diese Zukunft – oder wie nah?

Kulzer: Wenn man Diabetologen und auch Patienten nach ihrer Einschätzung fragt, ob und wann sich diese Systeme durchsetzen, dann ist die Antwort: In acht bis neun Jahren benutzen mehr als 50 Prozent aller Menschen mit Typ-1-Diabetes ein AID-System. 

Fakten zu Diabetes und Insulin

Diabetes mellitus ist der Sammelbegriff für Stoffwechsel-Störungen mit dem Hauptmerkmal chronische Hyperglykämie (Überzuckerung). Entscheidende Rolle bei der "Zuckerkrankheit" spielt das lebensnotwendiges Stoffwechselhormon Insulin, das den Kohlenhydrat-, Fett- und Eiweißstoffwechsel steuert. Die Ursachen für die Erkrankung reichen von der gestörten Insulin-Freisetzung aus der Bauchspeicheldrüse bis zum absoluten Insulinmangel.
Etwa 90 Prozent der Betroffenen haben einen Typ-2-Diabetes: Die Insulin-Wirkung in den Körperzellen ist vermindert, gekoppelt mit Insulinmangel. Diabetes Typ 2  geht zu über 80 Prozent mit Fettleibigkeit (Adipositas) einher.
Der Typ-1-Diabetes tritt vor allem bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf und betrifft 0,3 bis 0,4 Prozent der Bevölkerung. Bei der Autoimmunerkrankung werden Zellen in der Bauchspeicheldrüse durch das körpereigene Abwehrsystem zerstört. Der Körper produziert kein Insulin mehr, die "Brennstoffe" aus der Nahrung werden nicht mehr ausreichend in die Körperzellen geschleust und können nicht verstoffwechselt werden. Betroffene müssen ein Leben lang mehrfach am Tag Insulin spritzen, um die Blutglukose möglichst stabil und normal einzustellen. Schwerwiegende Folgeerkrankungen an Gefäßen und Nerven können so verhindert oder verzögert werden.
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