Weikersheim als Hochburg des Singens: Seit Tagen erarbeiten die Sängerinnen und Sänger des Bundesjugendchors dort das Stück "Ode an das Sägemehl" von Jan Kopp, das am Mittwoch, 1. Juni, in der Tauberphilharmonie uraufgeführt wird. In seiner Komposition setzt sich Kopp mit einem Gedicht des russischen Lyrikers Alexej Porvin auseinander, der in seinem gleichnamigen Werk den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine thematisiert – anhand des Bilds eines Baumstamms. Im Gespräch erzählt Jan Kopp von einer Auftragsarbeit mit unerwartetem Ausgang, Kultur als Brücke in Kriegszeiten – und Knackfröschen.
Jan Kopp: Als Kind habe ich Klavier gelernt, aber nie besonders gern geübt und hatte mehr Spaß daran, Sachen selbst zu erfinden und auszuprobieren. Ich habe dann versucht, meine Ideen aufzuschreiben und mich ins Komponieren hineingekämpft. Seit vielen Jahren unterrichte ich junge Komponierende und sehe auch bei ihnen: Der Impuls zu komponieren, kommt aus den Leuten selbst – und bleibt auch.
Kopp: Ich würde mich klar in der Neuen Musik verorten.
Kopp: Anne Kohler, die künstlerische Leiterin des Bundesjugendchores, hat mich im Spätsommer 2020 angerufen, in der Vorbereitungsphase zur Gründung des Chores. Hintergrund war, dass jedes Jahr ein Kompositionsauftrag durch den Deutschen Musikrat vergeben werden sollte, um den Chormitgliedern eine direkte Begegnung mit Neuer Musik und deren Schöpfern zu ermöglichen.
Kopp: Anne Kohler hat mir geschildert, wie der Bundesjugendchor sein würde: Er versteht sich nicht als Laien-, aber auch noch nicht als Profichor, zum Beispiel im Sinne der Rundfunkchöre. Er besteht aus jungen Leuten, die zwar noch wenig bis keine Erfahrung mit Neuer Musik haben, dafür aber Experimentierfreude und ein hohes Engagement.
Kopp: Ja. Das war kein Thema, das ich selbst gewählt hätte, weil es für mich eindeutig in der Romantik verortet ist. Ich schätze das romantische Waldbild zwar sehr, es steht aber meinem eigenen Welt- und Kunstverständnis nicht besonders nahe. Mir war klar, wenn ich damit umgehen will, muss ich einen ganz anderen Ansatz finden.
Kopp: Zeitgleich mit der Kompositionsanfrage des Deutschen Musikrates habe ich durch Corona angefangen, Pilze zu sammeln – und hatte dadurch jede Menge Walderfahrungen. Ich konnte beobachten, wie ich mich im Wald bewege, wie der Wald beschaffen ist, was mir auffällt, wie er klingt. Sehr spannend fand ich die Verflechtung von Mensch und Wald. Der halbe Wald ist mit Hochsitzen gepflastert, man findet überall Müll und Zivilisationsspuren. Ich wollte aber kein Stück schreiben, das sich mit Umweltproblemen beschäftigt, das wäre mir etwas platt erschienen. Ich habe dann ein tolles Buch von einer amerikanischen Anthropologin gefunden, das mich zum Reflektieren gebracht hat, wie wir kulturell, sprachlich und gedanklich mit dem Wald in Beziehung treten. Mit diesem Grundgedanken wollte ich komponieren. Da mir im Wald ganz häufig Knackgeräusche aufgefallen sind, wurden außerdem alle im Chor mit Knackfröschen ausgestattet.
Kopp: Ja. Wald kann auch eine Fremdheitserfahrung sein – es ist ein Raum, wo nicht wie in meinen eigenen vier Wänden alles von mir gestaltet ist. Dafür wollte ich symbolisch etwas in der Musik haben, was den Vokalrahmen sprengt. Es sollte etwas Einfaches sein, das von den Sängerinnen und Sängern keine große Zusatzübung erfordert. Das waren meine Vorüberlegungen – im Februar wollte ich mit dem Komponieren beginnen.
Kopp: Ich hatte das Gefühl, ich kann jetzt kein Stück über Wald schreiben, ich kann eigentlich gar nichts mehr schreiben. Weil Musik vor diesem Hintergrund relativ sinnlos ist. Ich habe ein paar Tage nachgedacht und entschieden, dass das, was ich machen wollte, nicht mehr geht.
Kopp: Dann habe ich überlegt, ob ich einen Text finde, der den Aspekt "Wald" mit der Ukraine und anderen Fragen zusammenbringt – und einfach gegoogelt. Erstaunlicherweise bin ich mit der zweiten oder dritten Suche bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) gelandet und habe ein Gedicht gefunden, das ein paar Tage vorher von dem 1982 geborenen russischen Autor Alexej Porvin erschienen war. Das Gedicht war ein absoluter Volltreffer...
Kopp: Innerhalb von ein paar Stunden habe ich es geschafft, sowohl zur Übersetzerin als auch zu dem Dichter, der in St. Petersburg sitzt, Kontakt aufzunehmen und konnte schnell klären, dass ich das Gedicht vertonen darf. Ich hatte viele Fragen zum Verständnis an die Übersetzerin Anja Utler – ich musste eine Vorstellung entwickeln, was dieses Gedicht genau ist, um die Idee für ein Musikstück ableiten zu können. Entstanden ist ein ganz anderes Stück, als ich es Monate lang geplant habe.
Kopp: Ich dachte, das Gedicht sei neu und nach Ausbruch des Krieges entstanden. Der Dichter, der russische und ukrainische Wurzeln hat, hat es aber bereits als Reaktion auf die Krim-Annexion im Jahr 2014 geschrieben. Aus seiner Wahrnehmung findet der Krieg schon seit acht Jahren statt – mit dem jetzigen Geschehen als neuer Eskalationsstufe.
Kopp: Zusätzlich zu den Nachrichten und politischen Diskussionen, die ich verfolgt habe, hatte ich durch den Kontakt mit dem Dichter noch einen Kanal nach Russland – zu jemandem, der die Situation wohl ähnlich sieht wie ich selbst. Das hat eine Verbundenheit über das Medium Kultur hergestellt, über diesen Graben, der sich jetzt auftut. Es war für mich eine Rettung zu spüren, dass Kultur auch in dieser Situation einen Sinn haben kann.
Kopp: Die zentrale Metapher des Gedichts ist der Baumstamm, der für das Gewissen, Standhaftigkeit und Eindeutigkeit steht. Er wird zu Sägemehl pulverisiert. Eine Lesart des Gedichts könnte sein, dass in den vergangenen Jahren in Russland systematisch ein Zerfall des Gewissens herbeigeführt wurde, um den Krieg gegen die Ukraine gesellschaftlich zu ermöglichen. Die große Frage ist, ob man diesen Zerfall wieder heilen kann. Für den Dichter ist dies auch mit der Frage verbunden, welche Zukunft die russische Gesellschaft hat, in der er lebt.
Das Konzert des Bundesjugendchors findet am Mittwoch, 1. Juni, um 19.30 Uhr in der Weikersheimer Tauberphilharmonie statt. Mehr Infos unter tauberphilharmonie.de