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BAD MERGENTHEIM
Spitze Feder und schwarzer Humor
Bearbeitet von Felix Röttger
 |  aktualisiert: 18.03.2017 03:32 Uhr

Mit spitzer Feder spießt Harald Martenstein in seinem neuen Kolumnenband „Nettsein ist auch keine Lösung“ pointiert und unterhaltsam scheinbar alltägliche, auf den zweiten Blick jedoch merkwürdige Begebenheiten auf. Statt auf „political correctness“ setzt der gebürtige Mainzer und Redakteur beim „Tagesspiegel“ sowie Kolumnist im „ZEITmagazin“ auf den gesunden Menschenverstand.

160 Gäste der Autorenlesung in der proppenvollen Buchhandlung Rupprecht in Bad Mergentheim goutierten seinen oft schwarzen Humor mit Zwischenapplaus, begleitet von befreienden Lachern. In ihrer Begrüßung informierte Maria Rupprecht darüber, dass Martenstein auch Romane schreibt; als ausgesprochenes „Lesevergnügen“ empfiehlt sie den jüngsten Roman „Schwarzes Gold aus Warnemünde“.

Sehnsüchtiger Blick gen Osten

Die ersten Zeilen einer gemeinsam mit Tom Peuckert geschriebenen, fantastischen Geschichte über den Fortbestand der DDR, der mit der Rede Günter Schabowskis am 9. November 1989 eine unerwartete Wende nimmt. Dabei geht es nicht um eine neue Reiseregelung für DDR-Bürger, sondern um umfangreiche Erdölvorkommen, die den bankrotten Staat plötzlich so reich machen, dass sämtliche innenpolitischen Unruhen im Keim erstickt werden. Nicht die „Ossis“, sondern die „Wessis“ blicken sehnsüchtig in den Osten, der mit Subventionen und einem bedingungslosen Grundeinkommen für jeden DDR-Bürger lockt.

Die wöchentlichen Kolumnen sind keine Auftragsarbeiten, verrät der Autor den Zuhörern; bei der Themenauswahl habe er freie Hand. Wenn sich Harald Martenstein von Ereignissen oder Texten provoziert fühlt, wird es gefährlich. Auch wenn seine Kolumnen inzwischen selbst Kultstatus genießen, widmet er seinen Sammelband dem von ihm verehrten, vor zwei Jahren verstorbenen Harry Rowohlt: „Einen wie ihn wird es nicht wieder geben“.

Das Cover seines Buches mit „einfachen Geschichten aus einem schwierigen Land“, so der Untertitel, ziert eine sogenannte Kitler, eine Katze mit Stummel-Schnurrbart und Seitenscheitel, die an Adolf Hitler erinnert. Von Katzen, die wie Hitler aussehen, soll es, so Harald Martenstein, auf der Internetseite catsthatlooklikehitler.com – eine seiner Lieblingsseiten im Internet – eine ganz Menge geben. Den Kritikern seiner Texte erweist er seine Referenz, indem er „schweren Herzens“ auf Lobhudeleien verzichtet und stattdessen andere, manchmal auch thematisch weiterführende Leserkommentare zu seinen Texten hinzustellt. Für das erste Hörvergnügen sorgte der Autor mit einer angenehm-sonoren Erzählerstimme mit der 2014 veröffentlichten Kolumne „Über Sinn und Sinnlosigkeit des Kinderkriegens“.

Das „Wort des Jahres“ ist eine ironische Auseinandersetzung mit der Kritik an dem angeblich abschätzig klingenden Wort „Flüchtling“; auch den „Lehrling“ habe man ja schließlich zugunsten der „Auszubildenden“ abgeschafft.

Scharfsinnig sind auch die Betrachtungen über „die Flüchtlingskrise“, für die „auf dem Gebiet der ehemaligen DDR eigentlich ein besonderes Verständnis für Flüchtlinge herrschen“ müsse, was leider nicht überall so sei. In seiner Kolumne „Social Freezing“ philosophiert der Autor über die Natur – „der schlimmste Feind der Menschen“ – und kommt zu dem tiefsinnigen Ergebnis, dass sich letztlich „die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erst dann perfekt verwirklichen lässt, wenn man auch die fertigen Kinder einfrieren kann“.

Insiderkenntnisse des zweifachen Familienvaters verrät die Kolumne „Kinder haben“, in der zum Trost für geplagte Eltern kurz vor dem Abtransport zur Babyklappe die Rettung naht. Die Kritik der Rapperin Lady Bitch Ray an „schwanzdominanten“ Wörtern greift der Kolumnist gerne auf und findet als geschlechtsneutrale, wertschätzende und gendergerechte Bezeichnung für Professorinnen und Professoren das Zauberwort „Prosecco“.

Besonderer Aufreger

Assoziationen mit dem „geschlechtneutralsten“ Alkoholgetränk überhaupt seien eher willkommen. Zum besonderen Aufreger wird seit Jahren das Fastenmotto der evangelischen Kirche, das der Autor bis zur letzten Konsequenz wörtlich nimmt und bei Devisen wie „Verschwendung“, „7 Wochen ohne Zaudern“, „Ohne Scheu“ bis zu „Selber denken! 7 Wochen ohne falsche Gewissheiten“ sich um die drohende „Selbstauslöschung dieser sympathischen Glaubensgemeinschaft“ ernste Sorgen macht.

Als köstliche Zugaben gab es noch die eine oder andere Kolumne aus früheren Bänden, etwa über den „Ordnungsruf“ von Wolfgang Thierse an die in Berlin lebenden Schwaben, mehr Integrationsbereitschaft zu zeigen und beim Bäcker nicht „Wecken“, sondern „Schrippen“ zu verlangen. Dass ein aus dem kleinstädtischen Eisfeld stammendes Landei so den Ur-Berliner raushängen lasse, findet Martenstein völlig daneben. Auch er sei nach Berlin gezogen, „weil alles so bunt ist. Aber ich sage Samstag, nicht Sonnabend.“

Harald Martenstein „Nettsein ist auch keine Lösung“, erschienen bei C. Bertelsmann, 208 Seiten, gebundene Ausgabe; inzwischen auch als Taschenbuch oder eBook erhältlich.

 
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