Wenn der württembergische König Friedrich I. nur nicht von solcher Leibesfülle gewesen wäre. Dann hätte er bei seinem Ulm-Besuch anno 1811 leicht den Weg hinauf auf den Michelsberg nehmen können um dort dem angekündigten Spektakel beizuwohnen. Oder wenn die Ulmer Stadtherren nur dem Vorschlag zugestimmt hätten, die versprochene Demonstration vom Münsterturm aus stattfinden zu lassen!
Rund hundert Meter hoch war der Kirchturm damals. Und Aufwinde herrschten dort, das hatte Albrecht Ludwig Berlinger Berblinger oft genug von seiner Werkstatt am Münsterplatz aus am Flugverhalten der Vögel gesehen. Wenn nur! Aber Württembergs König war nun einmal extrem füllig. Und so konnte Berblingers Demonstration nicht auf jenem Hügel stattfinden, wo ihm der Versuch – majestätisch unbeobachtet – wohl schon gelungen war. In der Stadt sollte er seine Künste beweisen. Am Donauufer, auf der Adlerbastei, hatten die Stadtväter resolut entschieden. Und so glitt Albrecht Ludwig Berblinger an jenem 31. Mai 1811 nicht durch die Luft. Sondern landete, nein stürzte . . .
Ein Schneidermeister mit Energie und technischem Talent
Aber von vorn. Das Jahr 1811, die Eisenbahn ist noch nicht erfunden, die Welt kennt noch nicht einmal das lenkbare Fahrrad. Erst in sechs Jahren wird der badische Forstbeamte Karl von Drais seine Laufmaschine namens Draisine vorstellen. Und Ulm? Gehört seit 1810 zum Königreich Württemberg. Die ehemalige Reichsstadt hat knapp 12.000 Einwohner und einer immer noch korporative Struktur. Die Gewerbetreibenden sind in 17 Zünften zusammengeschlossen. Die Schneiderzunft, chronisch überbesetzt, hat 76 Meister und 81 Gesellen, viele von ihnen – so berichten die Annalen – ohne „eine ordentliche Nahrung“.
Ein besonderer Zunftgenosse ist Albrecht Ludwig Berblinger. Der Schneidermeister – am 24. Juni 1770 als Sohn eines Zeugamtsknechts geboren – ist im weitläufigen Komplex des Ulmer Zeughauses aufgewachsen. Ein Wunderreich für einen aufgeweckten Jungen, mit Waffensammlungen, kunstvollen Geräten, Modelle und allerlei anderem Anschauungsmaterial. Nach dem Tod des Vaters 1783 kommt der Bub ins Waisenhaus und muss, gegen seinen Willen, eine Schneiderlehre beginnen. Die absolviert er, offenbar glänzend, samt Gesellenzeit. 1791 macht Albrecht Ludwig Berblinger seinen Meister, heiratet, gründet einen eigenen Hausstand. Beruflich äußerst erfolgreich und angesehen, beschäftigt der umtriebige Schneidermeister bald bis zu vier Gesellen und erwirbt in Ulm beträchtlichen Haus- und Grundbesitz.
Die erste bewegliche Beinprothese für versehrte Soldaten erfunden
Seine Leidenschaft indes gilt dem Erfinden. Ausgerüstet von früher Jugend an mit – so Berblinger über Berblinger - „einer besonderen Neigung zur Mechanik“ fertigt der Vielseitige „Kinderchaisen“ und andere Vehikel an. 1808 beginnt er mit der Entwicklung und Herstellung von Beinprothesen für die versehrten Soldaten der napoleonischen Kriege. Sie sind beweglich, überzeugen in Form und Funktion, den Antrag auf Unterstützung dieses Produktionszweigs lehnt der bayerische König aber ab. Berblinger lässt das Prothesenprojekt bleiben – und strebt nach Höherem.
Der Schneider träumt vom Fliegen. Uhrmacher Jakob Degen ist ihm Vorbild. Der hatte 1808 in Wien und anderswo Flugkünste mit einem Flugapparat vorgeführt. Degens Konstruktion hatte kreisförmige, spitz auslaufende Schwingen mit Hebelmechanismus, die Flächen waren mit 3500 Kläppchen versehen, die beim Auf und Ab öffneten oder schlossen. Um den Apparat vogelähnlich in die Luft zu bekommen hatte er ihn mit einem Wasserstoffballon versehen. Ballonfahren war – seit dem Aufstieg der Brüder Montgolfier 1783 – „die“ Attraktion und en vogue.
Der Ulmer Erfinder aber hat einen anderen Ansatz als der Flugpionier aus Wien: Berblinger will nicht vom Boden aus in die Luft, sondern von der Höhe herabgleiten. Er baut aus Seide, Schnüren und Fischbein einen Flugapparat mit zwölf Quadratmetern Tragfläche. Nachgebildet zwar dem damals unübertroffenen Modell Degen, doch anders in konstruktiven Details: Berblingers Fluggerät hat keine Kläppchen, keinen Hebelmechanismus. Nach allem, was bekannt ist, müssen die beiden Schwingen im Rücken des Trägers mit einem Streckgelenk verbunden gewesen sein. Das bietet festen Halt, lässt aber zur Steuerung kleine Ausschläge zu. Mit der Konstruktion des halbstarren Hängegleiters hat der Ulmer Tüftler die Idee des Schwingenflugs aufgegeben. Er setzt auf den – entwicklungsfähigen! – Gleitflug.
Mit dem Fluggerät "wie ein Vogel von Gartenhaus zu Gartenhaus gehüpft"
Am 24. April 1811 geht der Schneidermeister in einer Anzeige im Schwäbischen Merkur mit seinem Flugapparat an die Öffentlichkeit. Am Ulmer Michelsberg, wo günstige Aufwinde herrschen, hat er Flugversuche unternommen. „Wie ein Vogel“ sei Berblinger, so schildert es hernach ein Augenzeuge, „von Gartenhaus zu Gartenhaus gehüpft“.
Der Augenzeuge mag belustigt gewesen sein. Berblinger aber hat die Erkenntnis gewonnen: Absprunghöhe und erzielte Weite ergeben ein Gleitverhälnis von 1:2. Er rechnet: Wenn er zwei Meter weit fliegt, verliert er einen Meter an Höhe. Um über die 40 Meter breite Donau zu kommen, muss er aus 20 Metern Höhe starten. Am 27. Mai 1811 kündigt der Schneidermeister den Erstflug an: „bei günstiger Witterung“ am 4. Juni.
Doch der württembergische König hat sich angekündigt und will seine neu erworbene Stadt besuchen. Das eigens gebildete Festkomitee sieht die Chance, Majestät mit einem besonderen Spektakel zu erfreuen. So wird mit Berblinger der 30. Mai 1811 als Flugtermin vereinbart. Ort des Geschehens soll die 13 Meter über dem Fluss gelegene Adlerbastei sein. Berblinger lässt auf der Bastion ein sieben Meter hohes Holzgerüst errichten. Dass über fließenden Gewässern Abwinde herrschen, weiß er nicht . . .
Die Geschichtsschreiber berichten Folgendes: Am 30. Mai erscheint der wohlgenährte König Friedrich mit großem Gefolge, Tausende von Zuschauern säumen das Donauufer und warten gespannt auf das versprochene Schauspiel. Doch Berblinger bricht ein Flügel am Gerät, der Flug kann nicht stattfinden. Der König reist wieder ab. Immerhin nicht ohne dem Tüftler eine Gratifikation zu gewähren und der Stadt 2000 Gulden für die Anlage eines Parks entlang der Donau zukommen zu lassen. Am 31. Mai stehen die Ulmer und etliche Würdenträger erneut am Ufer und blicken auf Albrecht Ludwig Berblinger. Zweiter Versuch! Der 40-jährige Flugpionier steht blass und nervös auf dem Gerüst, tänzelt hin und her, vielleicht um den erhofften Aufwind zu spüren. Als er schließlich aus 20 Metern Höhe springt . . . stürzt er zum Vergnügen der Menge mit lautem Klatscher in die Donau.
Ein spektakuläres Scheitern. Der Schneidermeister wird klatschnass aus dem Fluss gefischt. Und verschwindet – von Hohn und Spott getränkt - spurlos aus der Stadt. Erst ein Jahr später wird wieder von ihm zu hören sein. Da versucht er, als Regimentsschneider beruflich wieder Fuß zu fassen. Erfolglos, aller Bemühungen zum Trotz. 1819, acht Jahre nach dem misslungenen Wagnis, wird der Schneider von Ulm als „civiliter mortuus“ seiner bürgerlichen Rechte beraubt und „für todt angesehen“. Er fällt der städtischen Armenfürsorge anheim. Die Akten der Stadt verzeichnen eine Neigung zu Alkohol und Kartenspiel. Am 28. Januar 1829 stirbt Albrecht Ludwig Berblinger, völlig verarmt, an „Abzehrung“. Sang- und klanglos endet das Leben des Visionärs in einem Armengrab.
Wenn der König nicht so dick gewesen wäre! Wenn Berblinger vom Münsterturm aus hätte starten dürfen!
Was nur, wen der König nicht so füllig gewesen wäre? Was nur, wenn der Schneidermeister vom Münsterturm aus hätte gleiten dürfen? Vielleicht wäre anno 1811 alles gut gegangen und statt verhöhnt zu werden wäre ein trocken gebliebener Berblinger hoch geehrt in die Annalen der Luftfahrt eingegangen.
Den brutalen Absturz hatten dem Schneider nicht die fatalen kalten Fallwinde über der Donau beschert. Alte Ulmer Postkarten zeigen ihn hilflos und ungeschickt in den Fluss stürzend. „Der Schneider von Ulm hat’s Fliegen probiert, do hat ihn der Teufel in d’ Donau nei g’führt“, hieß es. An Berblinger klebte der Ruf des Versagers, die Ulmer spotteten, man distanzierte sich – selbst blamiert – und mied seine Schneiderwerkstatt. Als Witzfigur wurde Berblinger zum Teil der lokalen Folklore.
Durch die Blamage geriet sein Genie und mechanisches Geschick in Vergessenheit. Vergessen, dass Berblinger mit seiner „Fußmaschine“ die erste Beinprothese mit Gelenk erfunden hatte, die Amputierten wieder zum Laufen verhalf. Vergessen der wohl erste Kinderwagen mit Rädern.
Berblingers Vision wurde noch Wirklichkeit . . . 80 Jahre später
Wenn jetzt am 24. Juni seine Geburt 250 Jahre zurückliegt, ist Albrecht Ludwig Berblinger rehabilitiert. Die Stadt Ulm verneigt sich. An der Adlerbastei, wo bisher nur eine Bodenplatte an den Flugversuch erinnerte, hat sie einen ästhetischen, luftigen Turm errichtet. Ein Werk des Münchner Künstlerduos Johannes Brunner und Raimund Ritz, das sich schwindelerregend in die Höhe schraubt. Zehn Grad über die Donau geneigt, in der Farbgebung an Berblingers rot-weißem Flugapparat orientiert, wird der bis zum Podest in 20 Metern Höhe begehbare Turm dem Besucher vielleicht vermitteln, wie nervös Berblinger unter den Augen des Königs und der Ulmer einst gewesen sein mag . . .
Nach dem Sturz von der Bastion aus sollte es übrigens noch 80 Jahre dauern, bis Berblingers visionäre Idee doch beglaubigten Erfolg hatte: Otto Lilienthal gelangen 1891 die ersten kontrollierten Gleitflüge. Er hatte auf das gleiche Prinzip gesetzt wie der Schneider von Ulm.