Franz Ködel hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte der Juden in Grünsfeld aufzuarbeiten. Aus diesem Grund hat er zahlreiche Dokumente erforscht und etliche Gespräche geführt. "Die Erinnerung an die Verbrechen der Nazi-Diktatur ist auch heute noch sehr wichtig", betont er. Ködel ist Mitglied im Grünsfelder Gemeinderat und ehemaliger Realschullehrer. Für ihn gibt die Erinnerung den vielen namenlosen Opfern ihre Würde zurück, denn "ein Mensch ist erst dann vergessen, wenn sich keiner mehr an ihn erinnert".
Deshalb stand der Spaziergang in Kooperation mit dem Familienzentrum Grünsfeld-Wittighausen am Holocaust Gedenktag auch unter dem Motto "Wider das Vergessen". Rund 50 Menschen nahmen daran teil und erlebten jüdisches Leben in Grünsfeld hautnah.
Gedenktag als "Appell an die Menschlichkeit"
Als ein "Zeichen gegen das Vergessen" wertete auch Cornelia Renk das Gedenken. Die Leiterin des Familienzentrums unterstützte mit Petra Horn vom Caritasverband die Veranstaltung. Für beide Frauen war die Aktion zum Holocaust-Gedenktag ein "Appell an die Menschlichkeit". Für besinnliche Momente sorgte Matthias Ernst aus Würzburg. Mit seiner Klarinette trug er verschiedene Musikstücke vor, die zum Nachdenken über das Gehörte einluden.
In den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellte Franz Ködel das dramatische Schicksal der in Grünsfeld geborenen Irma Rothschild, deren Versuch, wie all ihre anderen Geschwister aus Deutschland zu fliehen, misslang. Sie gehörte 1923 zu einer der Festdamen beim Gründungsfest des Gesangvereins Liedertafel. Auf einem Foto vom Fest der Fahnenweihe ist sie gemeinsam mit ihrer Cousine Rosa Rothschild im Kreis der Festdamen und der Mitglieder zu sehen. Doch schon wenige Jahre später war ihr Leben aufgrund der Gesetzgebung der Nationalsozialisten bedroht.
Erste Station auf dem Spaziergang war Irmas Elternhaus in der heutigen Abt-Wundert-Straße. Dort wurde sie als ältestes von neun Kindern der Eheleute Rosa und Simon Rothschild geboren und lebte – bis zum erzwungen Verkauf des Hauses im Dezember 1938 –auch als letztes Mitglied der Familie im Haus. Unter dem Druck der nationalsozialistischen Gesetzgebung flohen Irmas Geschwister nach und nach aus Deutschland. Einer ihrer Brüder gelangte beispielsweise über Köln und Aachen nach Belgien. Im August 1939 kam er in Palästina an. Nur Irma lebte zu diesem Zeitpunkt als letztes der Rothschild-Kinder noch in Deutschland. 1929 hatte sie Ludwig Baer aus Brühl bei Köln geheiratet, ein Jahr später kam Sohn Walter zur Welt.
Am 18. Februar 1939 verließ Ludwig Deutschland unter ungeklärten Umständen überhastet und allein. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Irmas Mutter Rosa wurde am 22. Oktober 1940 mit etwa 6000 anderen Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland nach Gurs in Südwestfrankreich deportiert, wo sie wenige Monate später im Alter von 64 Jahren an den Folgen der menschenunwürdigen Bedingungen starb. Das letzte Lebenszeichen von Irma Rothschild entstammt einem Aktenvermerk vom 14. Juni 1942: Sie wurde "zur Verfügung der Gestapo auf Transport gebracht" und ist wahrscheinlich mit ihrem Sohn Walter in einem der Vernichtungslager im Osten ums Leben gekommen.
Erinnerung an eines der dunkelsten Kapitel der Stadt
Die zweite Station der Spurensuche war der Stadtbrunnen, wo die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einem der dunkelsten Kapitel der Stadtgeschichte gedachten. Bei der "Judentaufe" am 3. September 1939 trieb eine fanatisierte Menge jüdische Bürgerinnen und Bürger durch die Straßen und warf sie in den Stadtbrunnen.
Am Ende ging es zum ehemaligen evangelischen Gemeindehaus, wo Franz Ködel aus dem Briefwechsel zwischen Irma und ihren Geschwistern vorlas. 65 Briefe sind erhalten. "Sie zeigen die Not, in der Irma steckte und wie schwer es war, eine legale Ausreisemöglichkeit zu erhalten", so Ködel. Drei Jahre habe sie für sich und ihren Sohn gekämpft. In ihren Briefen sei sie stets höflich gewesen, hätte sich bedankt und sich nach dem Befinden ihrer Verwandten erkundigt, gibt der ehemalige Lehrer Einblicke in Irmas Leben.
Irmas Spur verliert sich
Doch ihre Situation wurde mit der Zeit immer bedrohlicher. Weil die Post zensiert wurde, konnte Irma nicht mehr offen schreiben: "Die Familienmitglieder im Ausland ahnten nichts beziehungsweise konnten nicht wissen, wie es wirklich war", so Ködel.
Am Ende kam für sie jede Hilfe zu spät. Deutschlands Gesetze wurden immer restriktiver und verhinderten ihre Ausreise. Die Briefe ihrer Schwester sind herzzerreißend, resümierte Franz Ködel. "Sie befand sich in einer aussichtslosen Situation." Im letzten erhaltenen Brief scheint Irma sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben: "Alles ist Bestimmung. Ich will und muss mich fügen, wie Gott es will", schreibt sie am 9. November 1941. Wenige Monate später verliert sich ihre Spur in den Lagern von Theresienstadt oder Auschwitz.