Margit Fertig ist zum 38. Mal dabei. Jahr für Jahr pilgert die 72-Jährige von ihrer Heimatgemeinde Limbach in Baden-Württemberg nach Walldürn, einem der bedeutenden deutschen Wallfahrtsorte. „Man kommt zur Ruhe, kriegt andere Gedanken, kann Kraft schöpfen“, sagt die Seniorin. In der Nacht zuvor hat sie sich mit ihrer Pilgergruppe auf den rund 20 Kilometer langen Weg gemacht, um pünktlich zum Eröffnungsgottesdienst der Hauptwallfahrtszeit am Morgen einzutreffen. „Wenn man dann in der Kirche sitzt, das ist ein Gefühl, das man nicht beschreiben kann.“ Von den Märschen nach Walldürn zehre sie schon ihr ganzes Leben.
In den kommenden vier Wochen erwartet die baden-württembergische Odenwaldstadt mit ihren gut 11 000 Einwohnern bis zu 50 000 Pilger. Zu Fuß, mit dem Fahrrad oder als Buspilger strömen sie aus ganz Deutschland in die Wallfahrtsbasilika. Ihr Ziel ist der Blutschrein, der in dieser Zeit offensteht. Aus Fulda etwa soll eine Gruppe mit 1000 Pilgern kommen, aus Köln eine mit rund 400.
Die Pilgerlust der Deutschen ist ungebrochen – und längst nicht alle von ihnen sind religiös. Viele suchen das spirituelle Erlebnis, Antworten auf die Sinnfrage oder sie hoffen auf einen reinigenden Neubeginn. Experten schreiben den Boom nicht nur dem Hape-Kerkeling-Effekt („Ich bin dann mal weg“) zu.
Als das Buch vor zehn Jahren erschien, sei die Dauererreichbarkeit auf unzähligen Kanälen noch nicht so ausgeprägt gewesen wie heute, sagt Trendforscher Peter Wippermann. „Wir haben permanent Zugang zur Welt und die Welt permanent Zugang zu uns. Es bleibt kaum Zeit, uns um uns selbst und unsere Ziele und Wünsche zu kümmern.“
Die sonst fehlende Zeit ist beim Pilgern da – und mit ihr kommen die Gedanken, die sonst im Alltagsstress keinen Platz haben. „Es geht in erster Linie um innere Einkehr“, sagt Wippermann. „Man hat ein Ziel, aber in Wirklichkeit ist der Weg das Ziel.“
Auch die Deutsche Bischofskonferenz spricht von einem Trend. „Wir stellen fest, dass immer mehr Menschen sich – häufig alleine – zu Fuß auf den Weg machen“, erklärt der Referent für Touristikseelsorge, Gregor Spieß. „Neben der Erfahrung der persönlichen Entschleunigung und des unmittelbaren Naturerlebens ist das Alleinsein mit sich und mit Gott eine starke Motivation.“
Nach Walldürn pilgern viele Menschen, die auf Heilung für sich oder andere hoffen. Mario Gersitz zum Beispiel. Der 38-Jährige ist zum fünften Mal dabei. „Meine Frau hat ihren Bruder an Leukämie verloren – das hat uns damals bewegt, hierher zu laufen, Kraft zu schöpfen und zu beten, dass sonst alles gut läuft in der Familie.“ In diesem Jahr sei die Krankheit seiner Mutter seine ganz persönliche Motivation. „Ich bete dafür, dass alles gut geht.“
Für die Wallfahrtsorte bedeuten Pilger auch einen Geldsegen. Rund um die Walldürner Wallfahrtsbasilika blüht der Devotionalienhandel. „Es ist ein großer Wirtschaftsfaktor, vor allem im gastronomischen Bereich“, sagt Walldürns Bürgermeister Markus Günther (CDU). „Übernachtungen gibt es leider nicht mehr so viele wie in früheren Zeiten.“ Warum verweilen? Der Weg ist das Ziel – und der endet in Walldürn.