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BAD MERGENTHEIM
Meister zwischen sanft und zornig
Jazz-Legenden: Archie Shepp und Reggie Workman begeisterten ihr Publikum am Samstagabend im Roten Saal des Bad Mergentheimer Deutschordensschlosses.
Foto: Justus neidlein | Jazz-Legenden: Archie Shepp und Reggie Workman begeisterten ihr Publikum am Samstagabend im Roten Saal des Bad Mergentheimer Deutschordensschlosses.
Justus Neidlein
Justus Neidlein
 |  aktualisiert: 18.11.2016 03:51 Uhr

Es ist heute ein anderes Amerika. Anders als jenes, in dem sich Archie Shepp und Reggie Workman in den Sechziger- und Siebzigerjahren einen Platz in der Ruhmeshalle der modernen Jazz-Pioniere erspielt haben. Anders als das Amerika der Rassenunruhen, Bürgerrechts- und Black-Panther-Bewegung. Dennoch wurde am Samstagabend im Roten Saal des Bad Mergentheimer Deutschordensschlosses eines klar: Gerade im Angesicht der aktuellen Wahlergebnisse in den USA wirkt die Musik von Archie Shepp und Reggie Workman aktueller denn je.

Zwei Jazz-Giganten in intimer Athmosphäre

Ohne Zweifel gehören die beiden zu den großen Musikern des 20. Jahrhunderts. So war das Konzert in der Reihe „Jazz im Schloss“ durchaus einzigartig. Dementsprechend groß war das Interesse: Mit rund 200 Gästen war der Rote Saal restlos ausverkauft. Jedoch: In einer so intimen Atmosphäre dürften die beiden Jazzgiganten Shepp und Workman selten zu bestaunen sein.

Sowohl der Saxophonist Shepp als auch der Bassist Workman sind in einer Reihe mit Größen wie Cecil Taylor und John Coltrane zu nennen, auf dessen Aufnahme „Ascencion“ Shepp 1965 mitwirkte. Die Aufnahme markierte Coltranes Durchbruch zum Free-Jazz, zur freien Improvisation, die in Shepps Wirken eine große Rolle spielt. Die bei Shepp jedoch – trotz aller Avantgarde – die Wurzeln im Blues, Soul und Gospel keineswegs hinter sich lässt.

Ein Free-Jazzer legt seine Wurzeln offen

Archie Shepp ist am Saxofon wie auch mit seiner Stimme ein Meister des changierenden Klangspiels. Ein Meister des Laut und Leise, des Sanften und gleichermaßen Zornigen. Die Basis, der Unterbau seiner Musik transportiert aber immer einen vertrauten, emotionalen Swing-Sound. Selten nur lassen Shepp und Workman am Samstag den übergeordneten, tänzelnden Puls hinter sich. Und wenn doch, so fängt Shepp die Musik nach einiger Zeit mit einer klaren Anweisung wieder ein: „Walking“, brummt der 79-jährige Shepp seinem Bassisten zu. Dieser lächelt breit und wechselt in einen pulsierenden Walking-Bass-Lauf.

Reggie Workman zeigt mit seinen ebenfalls 79 Jahren eine beachtliche Präzision und Ausdauer am Bass, wenn auch das dauerhafte Stehen während des Konzerts einige Lockerungsübungen zwischen den Stücken nötig macht. Workman ist ein genialer Musiker, der perfekt mit Shepp harmoniert und die Verbindung zwischen Avantgarde und Tradition am Bass umsetzt.

Musik ist Politik

Diese allgegenwärtige afroamerikanische Tradition, der Blues, Soul und Gospel, ist für Shepp weit mehr als eine musikalische Frage. „Archie Shepp durchdrang die jeweilige Gegenwart immer äußerst intensiv“, schreibt der in Creglingen geborene Autor Helmut Böttiger. Und das bedeutet bei Archie Shepp dezidiert auch eine politische Durchdringung. So lehnt Shepp auch den Begriff „Jazz“ ab. Er spielt „African American Music“.

Archie Shepp wurde 1937 in Fort Lauderdale, Florida, in die schwarze Unterschicht hineingeboren. Er studierte Theaterwissenschaften, schrieb Stücke und wurde einer der maßgebenden wie auch radikalen Intellektuellen des schwarzen Amerika.

Ein zorniger alter Mann

Seine Musik erzählt davon. Wie etwa sein wohl bekanntestes Stück „Mama Rose“, ein Gedicht für seine Großmutter, das er auf die Melodie des Stückes „Things have got to change“ des Komponisten, Trompeters und Black-Panthers-Sympathisanten Calvin Massay singt. Oder aber sein „Blues for Brother George Jackson“. George Jackson war ein militantes Mitglied der Black-Panther-Bewegung. Jackson wurde 1971 im Gefängnis erschossen. „Früher war ich ein zorniger junger Mann“, hat Archie Shepp einmal im Interview mit der Zeit gesagt. „Heute bin ich ein zorniger alter Mann.“

Der Abend in Bad Mergentheim hinterlässt ein Gefühl der Dankbarkeit für eine Reise durch die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Wenn es stimmt, dass Archie Shepp die jeweilige Gegenwart durchdrungen hat, so hat er am Samstag einen beeindruckenden Überblick geliefert. Archie Shepp und Reggie Workman sind zwei der noch verbliebenen Vertreter einer Ära, in der die Musik der schwarzen politischen Bewegung eine Stimme gab. Es bleibt aber auch ein Gefühl der Ungewissheit: Es ist heute ein anderes Amerika. Wohin es sich bewegt, bleibt offen.

Die Konzertreihe „Jazz im Schloss“ findet nun schon im dritten Jahr statt und entwickelt sich immer weiter zum Pflichtprogramm für Jazzliebhaber. Veranstaltet werden die Konzerte vom Literaturschaffenden Ulrich Rüdenauer, dem es immer wieder gelingt, hochkarätige Künstler nach Bad Mergentheim zu locken, in Zusammenarbeit mit dem Deutschordensmuseum Bad Mergentheim. 2014 spielte der gefeierte Pianist Michael Wollny, 2015 der Saxofonist Lee Konitz mit dem Pianisten Florian Weber.)

 
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