
Ein ganz aktueller Trend sind Literaturfestivals, die sich nicht nur in großen Städten wie Bollwerke gegen den Verlust von realem Leben angesichts der übermächtigen Kraft virtueller Räume stemmen. Das Sommerfestival von "Literatur im Schloss", zu dem Programmleiter Ulrich Rüdenauer sieben Autorinnen ausgewählt und mit dem Residenzschloss Mergentheim, der Stadt Bad Mergentheim und der Buchhandlung Moritz und Lux in die Kurstadt eingeladen hatte, fand verdientermaßen viel Zuspruch.
Klanggarten als öffentliches Wohnzimmer
Gefördert wurden die von der Literaturkritikerin Beatrice Faßbender moderierten Lesungen mit inspirierenden Neuerscheinungen von dem Deutschen Literaturfonds Darmstadt und weiteren regionalen Sponsoren. Der Klanggarten oder – bei unsicherer Witterung – die Wandelhalle wurden zum öffentlichen Wohnzimmer, in dem gelegentlich die Tücken der Tonanlage Grenzen aufzeigten. Den Anfang machten Judith Hermann mit ihrem Roman "Daheim" und Bettina Baltschev mit "Am Rande der Glückseligkeit", Reisen zu ausgewählten Stränden Europas.
Mit ihrem großen Einfühlungsvermögen verstand es die Moderatorin, an allen Abenden nicht nur die Neugier auf eine Lektüre völlig unterschiedlicher literarischer Werke zu wecken, sondern unterhaltsam die individuellen Charaktere der Sprachkünstlerinnen dem Publikum näherzubringen. Jede Autorin hatte ihre eigenen Beweggründe und Herangehensweise an die Themen ihres Romans, dessen Veröffentlichung manchmal ein jahrelanges Ringen um jede Formulierung voranging. Nicht nur am Rande war zu erfahren, dass selbstbewusstes Auftreten gegenüber dem Verlag und den Lektoren bei der Konzeption des Werkes bis zur Wahl des Romantitels kein Nachteil sein muss.
Spannende Begegnungen
Die größte Zuhörerschaft fand in der Wandelhalle die bekannte Schauspielerin Katja Riemann, die mit ihren Reise- und Sozialreportagen "Jeder hat. Niemand darf. Projektreisen" aus Flüchtlingslagern im Bekaa-Tal im Libanon oder aus Burundi mit vielen unterernährten Kindern schockte, deren körperliche und geistige Entwicklung akut gefährdet ist. Eine scheinbar in sich gekehrte wirkende Anne Weber blühte bei der Vorstellung von "Annette, ein Heldinnenepos" von Frage zu Frage immer intensiver auf und berichtete von ihrer faszinierenden Begegnung mit der damals 95-, inzwischen 97-jährigen Französin Anne Beaumanoir. Der authentischen Gestalt hat die Autorin eine völlig eigenständige, von der Wirklichkeit inspirierte Heldengeschichte als Versepos gewidmet. Für ihre Hommage in Versen ohne Reime an eine Heldin erhielt Anne Weber den Deutschen Buchpreis 2020.

Eher selbstkritisch, wenn nicht sogar von unterschwelligen Zweifeln durchsetzt, startete die Literaturkritikern und promovierte Germanistin Anja Hirsch die Aufarbeitung ihrer eigenen Familiengeschichte mit dem Debütroman "Was von Dora blieb". Eine ihr zunächst rätselhaft-unnahbar erscheinende Großmutter Dora rückte sie in den Fokus ihres Romans. Fiktive Figuren und Episoden, die so nicht in den Briefen und Tagebüchern ihrer Großmutter geschildert wurden, knüpften als literarisches Werk an zeitgeschichtliche Ereignisse an. Ein ganzes Jahrhundert umfasst die Familiengeschichte, beginnend 1914 mit der Großmutter, bis sich dann die Enkelin Isa 2014 mitten in einer Ehekrise mit einer großen Kiste am Bodensee "eingrub", um auf intensive Spurensuche zu gehen.
Die Herzen der Zuhörerinnen und Zuhörer im Sturm eroberte dagegen die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo mit ihrem fantasiereichen Roman "Adas Raum", in dem sie Frauen durch die Jahrhunderte und über Kontinente auf Reisen schickt. Zur Ich-Erzählerin werden dabei ein Zimmer in einem Konzentrationslager, ein Reisigbesen oder auch ein Reisepass.
Hohe Ansprüche stellte Elisabeth Edl an sich selbst bei einer neuen Übersetzung von Gustave Flauberts Roman "L’Éducation sentimentale". Aus der 1869 veröffentlichten epochalen Gesellschaftsgeschichte und Liebesgeschichte, übersetzt als "Lehrjahre der Männlichkeit: Geschichte einer Jugend" las die als "Bella Block" beliebte Schauspielerin Hannelore Hoger zum Abschluss des Literaturfestivals vor.
