Das immense Werk des Lyrikers, Essayisten, Dramatikers und Prosaautors Hans Magnus Enzensberger versuchte Literaturkritiker Helmut Böttiger gemeinsam mit dem noch immer quicklebendigen Intellektuellen bei „Literatur im Schloss“ im Deutschordensmuseum in Bad Mergentheim Revue passieren zu lassen. Mit dem Charme des Unperfekten wehrte der 86-jährige Gast nach einer zwanzigminütigen, nicht immer unkritischen Laudatio des Moderators die Versuche ab, sein schriftstellerisches Wirken als Sprengstoff in der restaurativen Adenauer-Republik und später als maßgeblicher Befürworter der 68er-Bewegung zu interpretieren. Trotz einer geradezu störrischen Liebenswürdigkeit ließ er sich in anderthalb Stunden immerhin einmal aus der Reserve locken.
Zwiebel mit Kern und Schalen
Nach einer knappen halben Stunde kam Enzensberger erstmals zu Wort und verglich sein Schriftstellertum mit einer Zwiebel mit Kern und Schalen, die nach außen „immer öffentlicher und zeitabhängiger werden. Wenn man so lange unterwegs ist, möchte man sich ja nicht langweilen“. Mit Anspielung auf sein damaliges Alter bezeichnete sich er sich eher schon als 66er oder 67er.
Vielleicht stimme ja nicht alles, was so geschrieben werde. Fast schon resignativ bemerkte Böttiger: „Bei ihnen stimmt immer irgendwas; wenn man sie auf etwas hundertprozentig festlegen will, dann stimmt es nie“.
Mit der Anmerkung von Böttiger, im Gegensatz zum öffentlich heftig kritisierten Parteiredenschreiber Grass und dem Alterserotiker Walser gebe es bei den Kollegen immer nur leuchtende Augen, wenn der Name Enzensberger falle, kam der smarte Enzensberger dann doch in Fahrt: „Ich war zeitweise Kommunist, dann war ich Renegat, Chefideologe, Anarchist, Taschenspieler – das macht doch nichts und ist in Ordnung“. Für schwierig halte er nur die Erwartungshaltung an den Schriftsteller, sensibel und dickhäutig zugleich zu sein.
Er verglich sich mit einem Boxer, der nicht nur Muskeln haben müsse, sondern auch mit guter Fußarbeit sehr behände sein müsse. Es war der Moment, an dem Böttiger seinen Gast so sehr aus der Reserve gelockt hatte, dass ein roter Faden erkennbar wurde, der in Enzensbergers Leben und Wirken nie abriss.
Er habe sich nichts vorschreiben lassen wollen, weder in der Jugend, noch später von wieder in Amt und Würden gekommenen Nazis in einem „im Obrigkeitsstaat befangenen Deutschland“, das er in seinem Buch „Tumult“ schildert. Schwul sein war verboten; es gab den Kuppelei-Paragraphen: „Wir wollten aufräumen“.
Besuch in Chruschtschows Datscha
Sich nichts vorschreiben lassen, bedeutet für Enzensberger zugleich, sich nicht vereinnahmen und „festnageln“ zu lassen. Wohl deshalb kühlten seine Sympathien für eine Erneuerung der Gesellschaft unter sozialistischen Vorzeichen rasch ab, als er in Russland und auf Kuba gesellschaftliche und private Desaster erlebte. Das schrille Pathos und das Straßentheater in Deutschland haben nach Enzensberger überfällige Veränderungen befördert. Statt aus dem Buch „Tumult“ vorzulesen, erzählte Enzensberger lieber von seinem Besuch in Nikita Chruschtschows Datscha und las dann doch noch ein paar Zeilen vor.
Wie ein Resümee des Porträtabends, der mit ein paar Kurzgedichten von Enzensberger abgerundet wurde, klang dann ein vom Moderator ausgewähltes Zitat aus dem Buch „Tumult“: „Ich galt in einem vagen Sinn als links, was immer das bedeuten mochte“.