
Eine junge Frau zückt ihr Smartphone und schleicht zögernd um die Getränkeausgabe in der Stuttgarter Vesperkirche. Hinter der Theke schenkt Grünen-Chef Cem Özdemir Kaffee aus. Kurzer Wortwechsel, dann steht er schon neben ihr für ein Selfie. „Sonst sieht man ihn nur im Fernsehen“, sagt die Frau, die nicht mit Namen genannt werden möchte. „Der ist echt total korrekt.“
Özdemir ist am Donnerstag als Helfer in die Vesperkirche gekommen, einem Angebot für Bedürftige. Bereits in den beiden Vorjahren hatte er Essen und Getränke ausgeteilt. Erstmals steht der 51 Jahre alte Politiker aber als Spitzenkandidat der Grünen hier. Er soll die Partei gemeinsam mit Katrin Göring-Eckardt im Herbst in die Bundestagswahl führen.
In einem Nebenraum der Leonhardskirche hat Özdemir am Vormittag sein Sakko gegen eine weiße Schürze getauscht. Eine Mitarbeiterin schickt ihn von dort zum Ausschenken von Kaffee ins Kirchenschiff.
Mehrere Gäste nutzen die Gelegenheit, dem Politiker, der aus Bad Urach (Kreis Reutlingen) stammt, näherzukommen. „Ich darf dich doch Cem nennen?“, fragt eine ältere Frau und redet dann auch schon los über alles, was sie an der Politik ärgert. Aber was er, der Cem mache, finde sie gut. Andere kommen vorbei, um kurz seine Hand zu drücken. Ein Mann lehnt den angebotenen Kaffee ab und breitet stattdessen ein Blatt Papier aus. Özdemir soll einen kleinen Gruß darauf schreiben – für die Sozialarbeiterin des Mannes.
Auch die anderen Ehrenamtlichen freuen sich über die prominente Unterstützung und machen mit ihren Handys Fotos. „Dieser Besuch tut mir auch selbst gut, er zeigt, was in der Gesellschaft Realität ist“, sagt Özdemir. „Das ist kein Almosen, sondern praktizierte Mitmenschlichkeit.“
Die Vesperkirche läuft sieben Wochen im Jahr und ist Anlaufstelle für Obdachlose, Drogenabhängige, Rentner, Hartz-IV-Empfänger. „Die Bandbreite ist groß, die Leute kommen nicht nur wegen einer warmen Mahlzeit, sondern weil sie hier Gesellschaft haben“, sagt Diakon Kurt Klöpfer. „Die helfende Hand von Prominenten tut uns schon gut.“ Allerdings sei die Bekanntheit von Politikern unter den Besuchern beschränkt. Die meisten würden sich wohl eher über den anstehenden Besuch des VfB freuen.
Özdemir hat sich Unterstützung mitgebracht. Seine Familie begleitete ihn am Morgen zur Kirche. „Es ist klasse, was hier gemacht wird, mein Sohn sollte das sehen“, sagt der zweifache Vater. Seine Tochter blieb gleich da und hilft nun beim Brote schmieren. Der Politiker hat eigentlich Urlaub und betont, dass er nicht hier sei, um Wahlkampf zu machen. „Ich war auch in den Jahren zuvor da und die Vesperkirche bleibt auch nach der Wahl wichtig.“
Trotzdem ist er bei solchen öffentlichen Terminen kein Privatmann mehr. Seit er sich im vergangenen Sommer für die Armenien-Resolution des Bundestags eingesetzt hatte, steht er unter besonderem Schutz. Auch in der Kirche ist der Personenschutz nicht weit. Von der Getränke-Theke wechselt Özdemir um die Mittagszeit zur Essensausgabe. Das Menü dürfte nach dem Geschmack des überzeugten Vegetariers sein: Makkaroni mit Gemüse-Tomatensoße.
Armutsgefährdung in Deutschland
Obwohl Baden-Württemberg zu den stärksten und reichsten Regionen gehört, gibt es auch hierzulande Armut und soziale Ausgrenzung. Im Südwesten machen unter anderem die Vesperkirchen Armut sichtbar.
In Deutschland gilt als armutsgefährdet, wer mit weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens auskommen muss. Das Medianeinkommen teilt die Bevölkerung in zwei Hälften: Die eine Hälfte hat mehr, die andere weniger.
Im Jahr 2014 waren nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 15,4 Prozent der Menschen armutsgefährdet. Die Schwelle für Ein-Personen-Haushalte lag bei 917 Euro/Monat. Für Alleinerziehende mit einem Kind bis 14 Jahre lag der Wert bei 1192 Euro/Monat, bei älteren und mehr Kindern steigt er entsprechend.
Im Armutsbericht 2016 des Paritätischen Gesamtverbandes weist Baden-Württemberg mit einer Armutsquote von 11,4 Prozent den niedrigsten Wert aller Bundesländer auf.
Die regionalen Unterschiede sind jedoch groß: Die Region Rhein-Neckar weist eine sehr hohe Armutsquote im Südwesten auf, in der Region Bodensee-Oberschwaben ist sie niedrig. lsw