Alles hat seine Zeit, weiß schon die Bibel. Dinge, die jahrtausendelang benötigt wurden, die gestern noch in jedem Haushalt zu finden waren, sind heute aus unserem Alltag verschwunden. Was für den Jungsteinzeitmenschen vielleicht ein innovatives Werkzeug war, was die Etrusker kannten, was dank der Römer in Teilen Europas verbreitet wurde, die heilige Hildegard von Bingen als Teil ihrer Aussteuer mit ins Kloster brachte, der Meistersinger Hans Sachs in Gedichtform verewigte – passé. Was Schustern und Schneidern das Arbeiten erleichterte, Seidenstickerinnen, Näherinnen, züchtigen Hausfrauen und edlen Damen unentbehrliche Kleinigkeit war, da Verhüterli blutender Stichwunden, ist nur noch Relikt: der Fingerhut. Zumindest fast.
Privates Museum und weltweit „einzigartig“
Denn noch gibt es ein privates Museum in Creglingen im Main-Tauber-Kreis, das das Andenken an ihn bewahrt.
Und nicht nur das: In der Kohlesmühle, eineinhalb Kilometer außerhalb der baden-württembergischen Gemeinde, ist sowohl das – laut Google und den Betreibern – „weltweit erste und einzige Haus dieser Art“, als auch die dort betriebene Goldschmiede der Familie Greif beheimatet. Dort werden in handwerklicher Tradition auch weiterhin Kleinserien an Sammlerfingerhüten und Unikate hergestellt. Sie finden Abnehmer sogar in den USA und Japan.
1982 eröffneten Thorvald und Brigitte Greif ihre kleine, feine Sammlung. Sie beansprucht zwar nur zwei Räume mit 26 Vitrinen, die zum Teil durch Panzerglas gesichert sind, umfasst inzwischen aber über 4000 Ausstellungsstücke. Zu sehen sind die Vorläufer des gewöhnlichen Arbeitsschutz-Winzlings, ihm verwandte Objekte wie der Fingernagelschützer aus China, Raritäten, wertvolle Sammlerstücke, Reisenähzeug, Nähutensilien, Nadelbehälter und Werkzeuge für die Produktion.
Wer sich für die Objekte aus Ururur-Großmutters Ära und noch früher interessiert, sollte ohne Termindruck hinabsteigen in das unterirdische Reich im ehemaligen Mühlenhof. Dort wacht Museumsgründer Thorvald Greif, inzwischen weit in den Siebzigern, über seine Schätzchen. Wenn man Glück hat und ihn nicht gerade eine Gruppe von Touristen in Beschlag nimmt, dann erzählt der Goldschmiedemeister kurzweilig über die Kultur- und Industriegeschichte des Fingerhuts, die Vorgeschichte seiner Sammelleidenschaft und selbst gefertigte Stücke. Ein Stündchen vergeht so wie im Fluge und man hat immer noch nicht alles gesehen.
Am Anfang waren alte Maschinen
Die Basis für das Museum und die über drei Generationen erhaltene Passion für die schmucken Winzlinge schuf Helmut Greif mit dem Erwerb von Maschinen und Werkzeugen der im württembergischen Schorndorf 1825 gegründeten und ohne Nachfolger gebliebenen Firma der Gebrüder Gabler. „Sie betrieben die einst weltweit größte Fabrikation für Fingerhüte, die güterwaggonweise vor allem gen Osten exportiert wurden“, erzählt Thorvald Greif. Der Kauf Anfang der 1960er Jahre hätte die Grundlage zum großen Geldverdienen sein können, wäre nicht die gesamte Produktion „aufgrund von Brandstiftung“ in Flammen aufgegangen.
Die erloschen, nicht jedoch das Greif‘sche Interesse an den Fingerschützern. Im Auftrag einer amerikanischen Sammlerin machte sich der erste Fingerhut-vernarrte Greif daran, ein Nachschlagewerk zu diesem einst wichtigen Utensil zu erstellen. Er stöberte in Archiven, verfolgte die Spuren von „Fingerhütern“ – heute würde man sie eher als Fingerhutmacher bezeichnen –, ihrer Zunft, verwandten Berufen und der Fingerhut-Industrie.
Für sein Werk „Gespräche über Fingerhüte“ fand sich ein Verleger: 1000 der 3500 gedruckten Exemplare sollte er jedoch selbst an den Mann oder die Frau bringen. „Also hat der Familienrat beschlossen, ein Museum zu eröffnen“, berichtet Greif. Der Gründungszweck sei zwar längst erfüllt, „das Museum besteht aber weiterhin, zumindest so lange wie ich noch kann“.
Was passiert mit der Sammlung der Greifs?
Was nach seiner Ära mit der Sammlung geschieht, ist offen. Es lohne nicht, als Ersatz für ihn jemanden einzustellen, sagt Greif. Dazu sei der Umsatz zu gering, die Besucherzahl läge nur noch bei jährlich etwa 5000, und auch das Städtchen Creglingen habe bisher kein Interesse an einer Übernahme gezeigt. Reich wird man durch das Museum nicht, auch wenn es kostbare, teils in der Greif‘schen Goldschmiede gefertigte Exponate zur Schau stellt. So ein aus Platin gefertigtes Meisterstück mit der US-Flagge, in deren Sterne 50 kleine Diamanten eingebettet sind. Eine Woche Arbeit hat Thorvald Greif darin investiert.
Reichtümer haben wohl die wenigsten Fingerhüter erworben, wie dieser Spruch auf einem fliegenden Blatt von 1621 nahelegt: „Bader, Küfer, Fingerhüter bringen zusammen nicht viele Güter.“ Willkommen waren sie auch nicht überall, jedenfalls nicht im Köln des 15. Jahrhunderts. Dort gelang den Kupfergießern durch die Entdeckung des Messings der Durchbruch in der aufwendigen Fingerhutherstellung. Sie erfolgte durch Gießen von flüssigem Metall. Doch wegen der damit einhergehenden Luftverschmutzung mussten die Fingerhüter die Stadt verlassen.
Fingerhut-Wissen wurde geschmuggelt
Ganz anders sah es dagegen in Nürnberg aus, wo Fingerhüter seit etwa der Mitte des 14. Jahrhunderts nachgewiesen sind. Dort war das ein freier Beruf, den jedermann ausüben durfte. Was sich freilich mit der ersten Handwerksordnung für Fingerhüter änderte: Sie legte die Sperrung des Handwerks fest. Das heißt: Nur noch Nürnberger durften das Handwerk lernen und die Stadt dann nicht mehr verlassen, um das Geheimnis der von ihnen entwickelten Tiefziehtechnik zu bewahren. Bei dieser Technik schlug man ein dünnes Metallstück in ein sogenanntes Gesenke, trieb damit den Rohling dünn aus und brachte mit Spezialwerkzeug rundum kleine Vertiefungen auf.
Doch Industriespionage und Abwerbung der unfeinen Art gab es auch schon in früheren Jahrhunderten. Um 1763 soll es im Auftrag von Kaiserin Maria Theresia gelungen sein, einen Fingerhutmeister wegzulocken und ihn aus der Stadt zu schmuggeln. Vorbei war?s mit der Nürnberger Vormachtstellung.
Im industriellen Zeitalter überflüssig geworden
Erst verdrängten industrielle Fertigungsmethoden die handwerkliche Fingerhut-Herstellung, dann verdrängte die Nähmaschine den Alltagshelfer, von dem heute viele nicht wissen, dass man ihn auf den Mittelfinger setzt zum Nachschieben, wenn die Nadel von Daumen und Zeigefinger in die Näh- oder Stickarbeit eingeführt ist. Zumindest in Europa ist das so. Japanerinnen nähen anders. Sie benötigen eine Druckscheibe, die an der Innenseite eines Mittelfingerrings hängt.
Fingerhüte – oder ihre Alternative, die oben offenen Fingerringe – waren Gebrauchsgegenstände ohne großen Wert. Wie im Greif?schen Museum zu bestaunen, gibt es aber echte Schmuckstücke, auf denen etwa Rembrandts „Nachtwache“ en miniature zu sehen ist, die „Titanic“ versinkt oder an Lebensstationen von Martin Luther erinnert wird. Exemplare aus Meißner Porzellan: reizende, aber zum Arbeiten wenig geeignete Präsente für hochgestellte Damen, die ihre zarten Fingerchen beim Handarbeiten eher mit Hütchen aus Gold oder Silber schützten. Goethes Freundin Charlotte von Stein besaß solch ein Prachtstück, das sie verschenkte „an eine Bedienstete für 20 Jahre fleißige Arbeit“.
In den Schaukästen ist nicht alles Gold, was glänzt. Manche Stücke bestehen aus Tombak, einer hoch kupferhaltigen Messinglegierung. Ihren Sammlerwert mindert das nicht.
So klein die Exponate auch sein mögen, die Hinweise auf das Mini-Museum sind in Creglingen nicht zu übersehen: An der Straße künden überdimensionale Fingerhüte davon, an der Hausecke hält ein Fabeltier einen Fingerhut im Maul: ein angekaufter, aufwendig restaurierter Greif. Weil, wie Greif sagt, „der als Namenssymbol hervorragend zu uns passt“.
Ausflugstipps für Creglingen und die Umgebung
Fingerhutmuseum: Zu finden ist es 1,5 Kilometer außerhalb von Creglingen im Herrgottstal, einem Seitental der Tauber. Gegenüber dem Museum steht die Herrgottskirche mit dem berühmten Riemenschneideraltar. Creglingen liegt zwischen Bad Mergentheim und Rothenburg ob der Tauber an der Romantischen Straße. Die Adresse: Kohlesmühle, 97993 Creglingen Tel.
Öffnungszeiten: Von November bis März außer montags täglich von 13 Uhr bis 16 Uhr, von April bis Oktober immer von Di. bis So. von 10 Uhr bis 12.30 und 14 Uhr bis 17 Uhr. Für Gruppen sind nach Anmeldung auch andere Öffnungszeiten möglich.
Herrgottskirche mit „Marienaltar“: In der Herrgottskirche gegenüber des Fingerhutmuseums steht der weltberühmte „Marienaltar“ von Tilman Riemenschneider.
Adresse: Kirchplatz 2, 97993 Creglingen,
Tel. (07933) 508, E-Mail: info@herrgottskirche.de, www.herrgottskirche.de
Öffnungszeiten: Bis 31. Januar ist geschlossen. Im Februar und März täglich außer montags von 13 Uhr bis 16 Uhr, ab 1. April dann bis 31. Oktober täglich von 9.15 Uhr bis 18 Uhr.
Nach rechtzeitiger Anmeldung ist die Besichtigung der Herrgottskirche für Gruppen auch außerhalb der Öffnungszeiten möglich.
Rothenburg ob der Tauber: Über die L1005 gelangt man mit dem Auto in weniger als einer halben Stunde in das 18 Kilometer von Creglingen entfernte Rothenburg ob der Tauber mit seiner weitgehend erhaltenen mittelalterlichen Altstadt und zahlreichen Baudenkmälern. däsi