Verkabelt mit Mikroport sitzt Büchner- und Kleist-Preisträger Wilhelm Genazino fast regungslos in seinem Klubsessel auf dem Podium im Roten Saal des Bad Mergentheimer Deutschordensschlosses, noch bevor sich der Saal zu füllen beginnt. Nur die hellwachen Augen verraten dem etwas verblüfften Besucher innere Gespanntheit.
Unbegründete Sorgen, denn die später hinzukommende Moderatorin und Autorin Katrin Schumacher bringt einen so unglaublich warmherzigen Ton in die Lesung bei „Literatur im Schloss“ über Genazinos jüngsten Roman „Außer uns spricht niemand über uns“, dass ihr Gegenüber geradezu innerlich auftaut. Erstaunliche persönliche Dinge über seinen Werdegang und die Entstehung seiner inzwischen 20 Romane – oder sind es 21, wie der Autor glaubt – befördert sie so ans Tageslicht.
Wenn Genazino etwas nicht mag, dann sind es Klischees; deshalb begnügt er sich nicht damit, den Roten Saal toll zu finden, sondern findet die störenden Eisenträger interessant, weil hier verschiedene Zeiten aufeinander zugehen, eben die dabei entstehende Spannung sei auch das Thema in seinen Büchern.
Woher er denn seinen Protagonisten, einen „Ich“-Erzähler in dem neuen Roman herhabe, fragte die promovierte Moderatorin: „Er wirke schon ein bisschen weltfremd“. Es seien schon Anleihen von ihm selbst, meinte der Autor: „Dieser Anteil bewahrt mich vor der Fremdheit vor dem eigenen Produkt“.
Dass Frankfurt eine so große Rolle spielt, ist der Anstellung des früheren Zeitungsredakteurs Genazino bei der dort ansässigen Satire-Zeitschrift „pardon“ zu verdanken. Noch heute sei er für die Begegnungen mit „unglaublichen“ Leuten und vor allem Zeichnern wie etwa Robert Gernhardt und F. K. Waechter dankbar: „Das hat mich begeistert, weil ich das in dieser Stadt überhaupt nicht erwartet hatte“.
Warum ihn das Thema „Frauen“ auch im neuen Roman so beschäftigt hat, erklärt Genazino mit der Liebe zu seiner Mutter. In der Nachkriegszeit sei es seinem Vater – und damit auch der Familie – sehr schlecht gegangen. Seine Mutter habe einen sehr gutgehenden Schwarzhandel aufgebaut und immer unglaublich gut im Odenwald auf einem Bauernhof eingekauft. Selbst das so rare Fleisch sei auf den Tisch gekommen. So habe er eine sehr enge Beziehung zur Mutter gehabt.
Der Autor las dann aus seinem jüngsten, mit knapp 160 Seiten wieder recht schlanken Roman vor, in dem ein gescheiterter Schauspieler und Radiosprecher resignierend und weitgehend emotionsfrei durch den ereignisarmen Alltag schlingert. Näher kommt ihm nur seine Freundin Carola und später deren Mutter, ohne dass der Eindruck entsteht, dass sein antriebsloses Leben jemals noch in die Bahnen zu bringen ist, die er sich gerne ausmalt. Der 73-Jährige wirkt ein wenig wie aus der Zeit gefallen, wenn er bei der Lesung offenbart, dass er mit im Alltag auf Zetteln notierten, für ihn faszinierenden Beobachtungen – wie etwa ein am Schnuller saugendes Baby – seine Texte „anreichert“. Als Arbeitsgerät dienen ihm ausschließlich Schreibmaschinen, über deren Qualitäten er geradezu ins Schwärmen geraten kann.