So fern und doch so nah: Vor mehr als 100 Jahren endete der Erste Weltkrieg, die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“. Wie es dazu kam, ist in der historischen Forschung umstritten. Einen neuen Deutungsversuch hat Rainer F. Schmidt unternommen. Der ehemalige Professor für Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte an der Universität Würzburg präsentierte seine Erkenntnisse bei einem Vortrag, den Rotary Club Tauberbischofsheim und der Verein Deutscher Ingenieure (VDI), Arbeitskreis Bad Mergentheim veranstalteten.
Deutschland, so steht es noch heute in manchem Schulbuch, trägt die Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Verantwortlich sei die aggressive deutsche Außenpolitik. Sie habe mit dem Sturz Bismarcks begonnen, das Kaiserreich in den Untergang geführt und letztlich Hitlers „Machergreifung“ ermöglicht. Von Bismarck führt, das vermittelt der Titel eines Buches von Sebastian Haffner, ein direkter Weg zu Hitler.
Rainer F. Schmidt sieht das anders. In seinem auf intensivem Studium vor allem französischer und englischer Quellen beruhenden 900-Seiten-Werk „Kaiserdämmerung“, aus dem er bei seinem Vortrag referierte, kommt er zu einem differenzierten Urteil. Natürlich verschweigt er die fatalen Folgen des sogenannten Blankoschecks nicht, mit dem das Deutsche Reich zu Beginn der Julikrise 1914 Österreich-Ungarn gegenüber seine ungeteilte Bündnistreue versicherte. Und auch die Kündigung des Rückversicherungsvertrages mit Russland 1890 betrachtet Schmidt kritisch.
Er weist aber auch auf die Rolle Frankreichs hin. Dessen Staatspräsident Raymond Poincaré habe das Deutsche Reich „durch wiederholte Beistandszusagen an Russland, durch das Drängen auf den Abschluss einer britisch-russischen Marinekonvention sowie durch die von ihm maßgeblich herbeigeführte verdeckte Mobilmachung der Zarenarmee in eine schier ausweglose Zwangslage“ gebracht.
Am Ende, so Schmidt, seien keine „Schlafwandler“ am Werk gewesen, wie es der Titel des Buches von Historikerkollege Christopher Clark suggeriere. „Jeder wusste, worauf er sich einließ.“ Aber, und auch darauf wies Schmidt hin: „Die Wahrung des Friedens mit Augenmaß, Risikoabwägung und Interessenverzicht hatte in einem solchen aufgeheizten und vergifteten Klima keine Chance.“
Mit solchen pointierten Aussagen schafft man sich nicht nur Freunde. Gerade die Anhänger der „Alleinschuld-These“ werfen Schmidt vor, zu wenig kritisch gegenüber dem Deutschen Reich zu sein. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass sein Werk sich einfach (zu) gut verkauft. Mittlerweile ist es bereits in der dritten Auflage erschienen. Durchaus ungewöhnlich für ein historisches Sachbuch dieses Umfangs. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass Schmidt ein begnadeter Erzähler ist, der seinen Stoff anschaulich und gut strukturiert zu präsentieren weiß. Eine Gabe, die auch beim Vortrag mit Rotary und VDI zur Geltung kam.
Die Lehren, die Schmidt aus den historischen Ereignissen zog, waren von aktueller Brisanz. „Großmächte lassen sich nicht in die Enge treiben“, lautete eine. Die zweite: „Sanktionen sind ein zweischneidiges Schwert und oft ein untaugliches Mittel.“ Und nicht zuletzt: „Kriege entwickeln oft eine Eigendynamik und besitzen eine eingebaute Eskalationsspirale.“
Bezüge zum Krieg Russlands gegen die Ukraine liegen, so Schmidt, auf der Hand. An ein schnelles Ende glaubt er jedenfalls nicht. „Aus historischer Perspektive bin ich pessimistisch.“
Info: Rainer F. Schmidt: Kaiserdämmerung. Berlin., London, Paris, St. Petersburg und der Weg in den Untergang. Stuttgart: Klett-Cotta 2021