
Von Nadine Klikar
Wäre die Geschichte nicht so tragisch, könnte man schon fast darüber lachen. Drei Männer wollen einen Fahrkartenautomaten in die Luft jagen, weil sie auf schnelles Geld hoffen. Sie suchen sich einen möglichst abgelegenen Haltepunkt der Deutschen Bahn und sprengen das Gerät. Gehen dabei aber so dilettantisch vor, dass sie einen Schaden von über 30000 Euro verursachen. Die geradezu lächerlich geringe Beute: 218 Euro. So weit, so skurril. Doch der unausgegorene Plan des Trios kostet am Ende weit mehr als nur Geld - er kostet ein Menschenleben.
2013 sind deutschlandweit Automatensprenger unterwegs. Über 400 solcher Fälle registriert die Polizei damals. Die Täter gehen immer nach demselben Muster vor: Sie leiten Gas in den Automaten ein, kleben die Luftschlitze zu und entzünden das explosive Gemisch. Die Automaten fliegen auseinander wie heillos überladene Pappkartons an einem stressigen Umzugstag. Dann greifen sich die Kriminellen Geld und Fahrkartenrohlingen aus den Trümmern und flüchten zumeist unerkannt.
Peter B. (Name geändert) aus Zeitlofs (Lkr. Bad Kissingen) liest in der Zeitung über die Coups. Im Internet informiert er sich über die Vorgehensweise, kauft Schweißgerät, Gaskartusche, eine Sauerstoffflasche, Klebeband und Wunderkerzen als Lunte. In der Nacht zum 17. September 2013 lädt er mit seinen beiden Kumpanen, dem 52-jährigen Jürgen H. und dem 35-jährigen Michael S., die Untensilien in seinen Mercedes Kombi und fährt zu dem Bahnhaltepunkt Gaubüttelbrunn bei Wittighausen (Main-Tauber-Kreis). Der Automat im Grenzgebiet zum benachbarten Unterfranken ist abgelegen, schwer einsehbar und nachts kaum frequentiert – für ihre Zwecke also optimal. Maskiert schreitet das Trio gegen 1 Uhr nachts zur Tat: einer steht Schmiere, der andere wartet im Fluchtwagen.
Flucht mit dem blutenden Kumpanen auf der Rückbank
Peter B. bereitet die Sprengung vor - doch dann geht alles fürchterlich schief. Der unerfahrene „Sprengmeister“ verschätzt sich. Über die Luftschlitze dringt noch zu viel Gas aus. Kaum hat der 47-Jährige sein Feuerzeug entzündet, fliegt ihm der gesamte Automat um die Ohren. Selbst das benachbarte Wartehäuschen birst unter der Wucht der Explosion. Die mehrere Kilo schwere Stahlfront des Geräts trifft Peter B. am Kopf. Er wird von der Wucht des Aufpralls umgerissen, eine Blutlache breitet sich unter ihm aus. Der Raubzug endet in einem Desaster. Doch anstatt sofort einen Notarzt zu rufen oder den Schwerverletzten auf direktem Weg in ein Krankenhaus zu bringen, packen die beiden Mittäter ihre Werkzeuge und ihre Beute ein, schleifen den stark blutenden Mann zum Auto, legen ihn auf die Rückbank und geben Fersengeld.
Ein Mitarbeiter der Bahn trifft gegen 1.45 Uhr als Erster am Tatort ein. Ein Spannungsabfall an einer Schranke hat ihn alarmiert. Als er den Grund für das Problem an dem Übergang nicht findet, geht er wenige hundert Meter weiter zu dem Haltepunkt und traut seinen Augen kaum. Überall liegen die Trümmer des explodierten Fahrkartenautomaten verstreut, Kabel ragen lose aus den Stahlteilen. Aber da ist noch etwas anderes: „Noch mehr war ich erschrocken, als ich das Blut gesehen habe“, erinnert sich der Mann. Während die Polizei ihre Ermittlungen aufnimmt, flüchten die Täter mit ihrem Kumpanen auf dem Rücksitz durch die Nacht in Richtung Heimat, ins hessische Schlüchtern.
Die Polizei glaubt zunächst an ein Tötungsdelikt
Peter B. hat das Bewusstsein verloren, ist nicht ansprechbar und blutet immer noch stark. Doch Hilfe holen Jürgen H. und Michael S. immer noch nicht. Zwei Stunden lang fahren sie mit dem Schwerverletzten durch die Gegend, ehe sie schließlich gegen 3.30 Uhr den Bahnhof in Bad Soden (Main-Kinzig-Kreis), 120 Kilometer vom Tatort entfernt, ansteuern. Sie ziehen Peter B. aus dem Auto, nehmen ihm Maske und persönliche Gegenstände ab und lassen ihn auf dem Parkplatz liegen. Einer setzt mit dem Handy einen Notruf ab. Er gibt sich als Thomas Müller aus und meldet einen „Verletzten nach einer Schlägerei“. Doch für Peter B. kommt jede Hilfe zu spät: Er stirbt noch im Krankenwagen. Die Polizei vor Ort geht zunächst davon aus, dass der 47-jährige Unterfranke selbst das Opfer eines Verbrechens geworden ist. Bei der Obduktion stellen die Rechtsmediziner schwere Schädelverletzungen fest, sie glauben an ein Tötungsdelikt.

Die Arbeitsgruppe „Bahnhof“ nimmt ihre Ermittlungen auf. Sie sprechen mit Verwandten und Freunden des Opfers, sichten unzählige Handydaten und stoßen schließlich auf den Mercedes von Peter B., der verlassen am Bahnhof in Schlüchtern steht. Auf der Rückbank des Autos finden die Beamten eine große Menge Blut. Und sie stellen Fingerabdrücke und einen Fußabdruck sicher, beides stammt nicht vom Opfer. In mühevoller Kleinarbeit setzen die Polizisten das Puzzle zusammen. Sie hören Telefongespräche ab und stellen schließlich drei Wochen nach der Tat die Verbindung zu dem Verbrechen in Wittighausen her. Die beiden Mittäter von Peter B. werden identifiziert, ihre Wohnungen durchsucht. Dort finden die Beamten auch das "Werkzeug" und die Beute.
Vor dem Landgericht Hanau müssen sich die beiden Komplizen im Juli 2014 unter anderem wegen versuchten Mordes verantworten. Da die Staatsanwaltschaft davon ausgeht, dass beide den Tod des Unterfranken billigend in Kauf genommen haben. Dass sie, um ihre Mitschuld an der Sprengung des Automaten zu verschleiern, keine Hilfe für den 47-Jährigen geholt haben.
Anklagen wegen versuchten Mordes
Oberstaatsanwalt Jürgen Heinze legt dem 52-jährigen Jürgen H. das Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion in Tateinheit mit Diebstahl und Sachbeschädigung sowie versuchten Mord zur Last. Bei dem 35-jährigen Michael S., bei dem bei der Verhaftung ein Koffer mit Plastiksprengstoff, zwei Pistolen und Munition gefunden wurde, kommt der Vorwurf des Verstoßes gegen das Sprengstoff- sowie das Waffengesetz hinzu.
Beide Männer schieben Peter B. die Schuld für die missglückte Sprengung in die Schuhe, geben an, nur Mitläufer gewesen zu sein. Der 47-Jährige soll sie erst kurz vor der Tat angesprochen haben. Der Ältere will mitgemacht haben, um einem seiner drei Kinder ein Fahrrad kaufen zu können, der Jüngere nur mit einem unguten Gefühl im Bauch und als Fahrer des Fluchtwagens. Sie hätten die Verletzungen des Unterfranken nicht als lebensgefährlich eingestuft, und ihn am Bahnhof in Salmünster abgelegt, weil sie die Nähe zum dortigen Krankenhaus als günstig eingeschätzt hätten. Die Beute hätten sie nur aus Angst, Peter B. könne später seinen Anteil einfordern, mitgenommen. Eine rechtsmedizinische Gutachterin entlastet die Männer. Sie geht davon aus, dass Peter B. "mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch bei einem schnellen Rettungsversuch gestorben wäre".
Staatsanwalt Heinze spricht in seinem Schlussplädoyer von einer "menschenverachtenden Tat". Alle paar Kilometer, alle fünf bis zehn Minuten, hätten sie die Möglichkeit gehabt, den Freund zu retten. Aber immer wieder haben sie eine Entscheidung gegen den Freund und für die eigene Freiheit und Tatvertuschung getroffen. Die Verteidiger werten die Tat als unterlassene Hilfeleistung und beantragen Freiheitsstrafen von nicht mehr als vier Jahren.
Die Schwurgerichtskammer folgt der Auffassung der Anklagebehörde. "Wir haben es hier mit einem Tötungsdelikt zu tun", betont Richter Peter Graßmück. Zwar sei der Zeitlofser nicht durch fremde Hand gestorben, sondern infolge eines "Berufsrisikos" und einer dilettantischen Tatausführung. "Sie haben sich den Tod nicht gewünscht oder ihn nicht gewollt. Aber sie haben sich damit abgefunden." Beide Männer werden wegen versuchten Mordes verurteilt, der Ältere muss für fünf und der Jüngere für sieben Jahre hinter Gitter. Ein Urteil, mit dem sich Michael S. nicht abfinden will. Er legt Revision ein und hat damit Erfolg.
Der Bundesgerichtshof (BGH) ordnet eine neue Verhandlung an, weil die Verurteilung nach Ansicht der Richter nicht ausreichend begründet wurde. Der Revisionsprozess bringt den beiden Angeklagten jedoch nur leicht reduzierte Strafen. Der Jüngere wird zu sechs Jahren und acht Monaten verurteilt, der Ältere erhält vier Jahre und zehn Monate. Er befindet sich zu diesem Zeitpunkt bereits im offenen Vollzug. Auch gegen dieses Urteil geht der Jüngere in Revision, weil er, wie seine Anwältin sagt, den Vorwurf des versuchten Mordes aus seiner Akte tilgen will. Im Mai 2017 weist der BGH die erneute Revision zurück, damit ist das Urteil gegen die beiden Angeklagten dreieinhalb Jahre nach der Tat rechtskräftig. Ein hoher Preis für gerade einmal 218 Euro.