Vielleicht sollte man es des Öfteren so handhaben wie Wilhelm Genazino: Das Alltägliche bemerken, den scheinbaren Kleinigkeiten, den Dingen dazwischen seine Aufmerksamkeit schenken und sie dadurch wertschätzen. Der Autor begann 1972 damit, seine Beobachtungen - hauptsächlich an öffentlichen Orten gemacht - auf kleine Zettel aufzuschreiben. Mithilfe dieser Notizen schaffte er es, die Menschen und Vorkommnisse um sich herum – auf seinem Weg als Flaneur – festzuhalten, nachzudenken und schließlich einzuordnen. Das tat er bis zu seinem Tod im Jahr 2018.
Im Januar 2023 wäre der Büchner-Preisträger 80 Jahre alt geworden. Passend dazu wurde von Jan Bürger und Friedhelm Marx im Hanser Verlag das Werktagebuch „Der Traum des Beobachters“ mit ausgewählten Aufzeichnungen herausgegeben. Grundlage sind knapp 7000 Seiten in handelsüblichen Aktenordnern, die Wilhelm Genazino dem Deutschen Literaturarchiv Marbach zur Aufbewahrung und Auswertung überlassen hat.
"Die Angst, daß mich eines Tages das Schreiben selbst verlassen würde"
Weshalb schrieb er so viele seiner Gedanken auf? So heißt es in einem Typoskript von 2013: "Stattdessen ging ich dazu über, mir stets neue, unbeschriebene Zettel in die Brusttasche des Hemdes zu schieben, sobald ich die Wohnung verließ. Es ist eine Freude, sofort, das heißt an Ort und Stelle, auf die Wirklichkeit mit Schreiben zu reagieren." Und weiter: "Die Zettelsammlung verwandelte sich in eine Art Materialcontainer, der mir (das war meine Phantasie) in Situationen der Schreibnot stets beistehen würde. Nach einigen Jahren merkte ich, daß nicht die befürchtete Schreibnot der Grund der Zettelsammlung war, sondern eine tiefsitzende Angst, die ich lange nicht auszusprechen wagte: Die Angst, daß mich eines Tages das Schreiben selbst verlassen würde."
Später heißt es: "Denn es war klar, daß ein vom Schreiben verlassener Schriftsteller auch in jeder anderen Hinsicht verlassen war. Es handelt sich um eine archetypische Angst, die dem Subjekt mit Vernichtung droht und deswegen nicht behandelbar ist. Die Zettel dagegen flüstern mit Anmut und Zuversicht: Morgen geht es weiter. Nie hätte ich für möglich gehalten, daß diese läppischen kleinen Notizen den Kampf gegen solche Riesenängste aufnehmen und ihn dann und wann gewinnen würden."
"80. Geburtstag" an Orten wie Stuttgart, Frankfurt, München und Bad Mergentheim
Anlässlich seines „80. Geburtstages“ fanden an 20 Orten wie Stuttgart, Frankfurt, Berlin, München und Marbach in unterschiedlicher Besetzung Lesungen, Gespräche und Filmvorführungen statt. Auch in Bad Mergentheim, wo Wilhelm Genazino zweimal bei Literatur im Schloss zu Gast gewesen war, 2006 und 2016.
Bei der Veranstaltung zu Ehren Genazinos im Roten Saal des Residenzschlosses unterhielt sich Moderatorin Katrin Schumacher, Kulturredakteurin und Literaturkritikerin, mit Jan Bürger, der in Marbach dessen Nachlass betreut, und Anja Hirsch, Autorin und Literaturwissenschaftlerin, die über Wilhelm Genazino promovierte. Alle drei hatten einen Bezug zum Schriftsteller: Katrin Schumacher hatte Wilhelm Genazino 2016 in Bad Mergentheim kennengelernt („Eine Begegnung, die sich fortsetzte“), Jan Bürger arbeitete 19 Jahre mit ihm zusammen („Er war ein Autor, den ich kannte, aber nicht gelesen hatte. Es entstand ein herzliches und professionelles Verhältnis.“) und Anja Hirsch – sie suchte für ihre Doktorarbeit ein Thema („Texte, die über einen langen Zeitraum für mich funktionieren würden.“)
Die drei sprachen über das Leben und Werk von Wilhelm Genazino, Sprecher und Schauspieler Thomas Sarbacher rezitierte dazwischen einnehmend Passagen aus dessen Texten. Rund 120 Interessierte lauschten den Ausführungen an diesem Abend, auch die Tochter Genazinos war mit ihrer Familie nach Bad Mergentheim gekommen.
Wahrscheinlich hat er sein Leben lang nur an einem großen Buch geschrieben
Weshalb beeindruckte Wilhelm Genazino die Gäste auf dem Podium dermaßen? „Wie immer geht es ganz beiläufig um alles“, erklärte Katrin Schumacher. Doch diese Innenschau, wie Anja Hirsch es nannte, sei von Gutmütigkeit, nicht von Hochmut geprägt gewesen. Die Figuren seiner Beobachtungen schien er dabei zu beschützen und mit den Protagonisten mitzuleiden. In gewisser Weise ging es um das Abwesende in der Kunst, allerdings sei es, meinte Jan Bürger „nie Theorie, um der Theorie Willen gewesen, sondern der Wunsch Gesellschaft zu verstehen.“ Auch wenn Genazino für sich festgestellt hatte, dass Kunst etwas sei, von dem man von Anfang an wisse, dass man es nie ganz verstehe.
Für Wilhelm Genazino bedeutete das Schreiben wahrscheinlich Rettung, ein Weg, mit der Grundsituation der Überforderung umzugehen. Dabei habe er die Dünnhäutigkeit der Welt durch ein aktives Beobachten zum Programm gemacht, so Jan Bürger. Er wollte Situationen, Geschehnisse erkennbar machen und durch sein Schreiben erfassen und zu deuten. „Wahrscheinlich hat er auch sein Leben lang an ‚nur’ einem großen Buch geschrieben, einem Gesamtwerk“, so die Vermutung der Runde in Bad Mergentheim.