Menschen sind auf der Flucht. Das ist heute so und war früher nicht anders. Flucht und Vertreibung hat auch die Familie von Lukas Stoy aus Gerchsheim erlebt. Während des Zweiten Weltkrieges musste seine Urgroßmutter mit Mann und Tochter die Heimat in Rumänien verlassen. Sechs Jahre waren sie auf der Flucht, bevor sie in Unterfranken bleiben konnten.
Lukas Stoy hat die wechselvolle Geschichte mit detektivischem Spürsinn recherchiert. Die historische Facharbeit reichte der Abiturient am Matthias-Grünewald-Gymnasium in Tauberbischofsheim beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten ein - und gewann. Seine Arbeit wurde mit einem Landespreis ausgezeichnet.
5600 Schüler haben geforscht
„So geht’s nicht weiter. Krise, Umbruch, Aufbruch“ lautete das Thema der 26. Ausschreibung des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten. Bundesweit haben rund 5600 Schüler zu dem aktuellen Thema geforscht. Aus allen eingereichten Beiträgen wurden die besten Arbeiten ausgewählt. Auf Landesebene vergab die Körber-Stiftung insgesamt 250 Landessiege (je 250 Euro) und 250 Förderpreise (je 100 Euro). Zudem wurde in jedem Bundesland die erfolgreichste Schule ausgezeichnet.
„Auf Feiern hat meine Oma immer Geschichten von früher erzählt“, berichtet Lukas Stoy. Das sei zwar immer interessant gewesen, viel nachgedacht habe er aber darüber nicht. Ein Zufallsfund machte ihn dann aber doch neugierig. Im Wohnzimmerschrank seiner Oma entdeckte er die Einbürgerungsurkunde seiner Urgroßeltern. Den aus Czernowitz in der Bukowina stammenden Gertrud und Michael Massier wurde samt ihren beiden Kindern Maria und Reinhold 1940, also mitten im Zweiten Weltkrieg, die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkannt.
Was es damit auf sich hat, wollte Lukas Stoy herausfinden. Die Recherche gestaltete sich schwierig. Einige wenige Zeitzeugen von damals gibt es noch. Lukas Stoy suchte sie auf und befragte sie. Die beiden Großtanten Ernestine May und Maria Amrein sowie Großmutter Ingeborg Hertlein konnten sich noch an etliche Details ihrer damaligen Flucht erinnern.
Wie es sich für einen richtigen Historiker gehört, überprüfte Lukas Stoy die im Interview gewonnen Informationen. Fast zwei Jahre benötigte der Nachwuchsforscher für Recherche und Auswertung. Entstanden ist eine bemerkenswerte Arbeit, die nach fachwissenschaftlichen Standards die Vergangenheit der eigenen Familie aufarbeitet und sie in die Zeitgeschichte einordnet.
Eine Geschichte wie aus einem Krimi
„Eine Geschichte voller Angst, Schrecken und Dramatik“ fasst Lukas Stoy seine Erkenntnisse zusammen. Stellenweise lesen sich seine Ausführungen wie ein Krimi. Lukas Stoys Familie gehörte der deutschen Volksgruppe in der Bukowina an. In dem damals zu Österreich-Ungarn gehörenden Landstrich lebten unterschiedlichste Ethnien friedlich mit- und nebeneinander. Die ersten Einschränkungen gab es, als die Bukowina nach dem Ersten Weltkrieg an Rumänien fiel. Im Zweiten Weltkrieg vereinbarten die Sowjetunion und Hitlerdeutschland, die Bukowinadeutschen umzusiedeln. „Heim ins Reich“ lautete die Parole. Im Herbst 1940 bestiegen Gertrud und Michael Massier mit ihrer fünfjährigen Tochter Maria und dem zehn Monate alten Sohn Reinhold wie rund 44 000 andere Menschen aus der Nordbukowina einen Zug, der sie für immer von ihrer Heimat trennen sollte. Auf der Fahrt erkrankte Reinhold an einer Lungenentzündung und starb.
Kaum eingebürgert, wurde Michael Massier zur Wehrmacht einberufen und verpasste so die Geburt seiner Tochter Ernestine. Als 1942 die dritte Tochter Ingeborg zur Welt kam, galt Massier schon als vermisst. Von einem der zahlreichen Vorstöße währender Schlacht um Stalingrad kehrte er nicht mehr zurück.
Lukas Stoys Urgroßmutter war jetzt ganz auf sich alleingestellt und musste sich um drei Kinder kümmern. Die vorrückende Rote Armee veranlasste sie, im Januar 1945 zu fliehen. Vom Lager Wurzen aus erlebten die Flüchtlinge die Bombennacht des nur rund 80 Kilometer entfernten Dresden. „Es waren schreckliche Bilder, die ich nie vergessen werden“, zitiert Stoy aus der Autobiographie des damals zwölfjährigen Alfred Beutel, Cousin seiner Großmutter Ingeborg und damals mit auf der Flucht.
Nach Kriegsende führte die Flucht über Bitterfeld nach Herrngiersdorf bei Regensburg. Einen Monat lebten sie anschließend in Schweinfurt in einem umfunktionierten Bunker, bis ihnen eine Bleibe in Oberpleichfeld bei Würzburg zugewiesen wurde. Die Aufnahme dort war alles andere als herzlich. „Wir wurden bei sonntäglichen Kirchenbesuchen und beim Einkaufen benachteiligt und ausgegrenzt“, erinnert Stoys Großmutter Ingeborg sich. Die Kinder in Oberpleichfeld hegten ebenfalls keine großen Sympathien für die Neuen. Zumindest am Anfang. „Wir haben die Flüchtlinge immer als Kartoffelkäfer bezeichnet“, räumt Alois Hertlein ein. Das änderte sich, als er sich in Ingeborg Massier verliebte. Vor der Hochzeit musste er einige Überzeugungsarbeit leisten. „Mit der Frau kommst du zu nichts“, habe seine Mutter ihm vorgeworfen. Alois Hertlein ließ sich aber nicht beirren und heiratete 1962 das Flüchtlingskind Ingeborg Massier. „Seitdem lebt meine Großmutter ein glückliches Leben in Oberpleichfeld und ist vollständig integriert“, sagt Lukas Stoy.
Eine Reise zu den Wurzeln der Familie
Als „spannende Reise zu sich selbst und zu den Wurzeln der eigenen Familie“ bezeichnet Stoy die Arbeit an seinem Thema im Rückblick. Er habe viel mehr herausgefunden als erwartet. Die für die Recherche notwendigen Interviews hatten, so Stoy, einen schönen Nebeneffekt: „Die ganze Familie ist miteinander ins Gespräch gekommen.“
Die Mühen haben sich gelohnt. Im Rahmen eines Festaktes erhält Stoy am 20. September im Neuen Schloss in Stuttgart vom Ministerpräsidenten den Landespreis des Wettbewerbs. Dazu hat er noch die Chance, einen Bundespreis zu erringen.
In der Zwischenzeit hat Lukas Stoy eine weitere Einladung erhalten. Am 1. September fliegt er mit dem Bundespräsidenten als einer von drei Preisträgern nach Polen, um auf der Westerplatte an den Gedenkfeierlichkeiten zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges teilzunehmen.