Engpässe in der ärztlichen Versorgung rühren nicht unbedingt daher, dass es zu wenige Ärzte gibt, meint die Ärztekammer. Deren Zahl hat nämlich einen Rekordstand erreicht. Das Problem liegt vor allem in einem geänderten Berufsverständnis.
Ein Modellversuch zur Therapie von zuvor nicht behandelten Patienten über Telefon oder Internet stößt in der Ärzteschaft auf große Resonanz. Mit dem in Deutschland einzigartigen Vorhaben will die Ärztekammer Baden-Württemberg die Digitalisierung im Gesundheitswesen vorantreiben und den Mangel an Medizinern abfedern, wie Kammerpräsident Ulrich Clever am Donnerstag in Stuttgart erläuterte. „Es gibt bereits eine Menge Interessenten.“
Wartezeiten vermeiden
Die baden-württembergische Kammer hat als erste die Berufsordnung so geändert, dass Fernbehandlung nicht nur bei Bestandspatienten, sondern auch bei solchen möglich ist, die der Mediziner zuvor noch nie gesehen hat. Ärzte und Ärztegruppen können sich seit dem 1. April für die neue Art der Behandlung bei der Kammer bewerben.
Sie entscheidet anhand von Qualitätskriterien über die Teilnahme am Modellprojekt. Die neue Möglichkeit sorgt aus Sicht der Kammer auch dafür, dass Patienten Wartezeiten in überfüllten Wartezimmern, wo sie der Gefahr von Infektionen ausgesetzt sind, erspart bleiben.
Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) meinte, die Telesprechstunde könnte im ländlichen Raum genauso sinnvoll sein wie allgemein zur Entlastung von Arztpraxen oder von Notfallambulanzen auch im städtischen Bereich. Deshalb beabsichtige er von den Kammern genehmigte Projekte zu unterstützen und zu fördern. Das Thema Telemedizin wird auch im Fokus des 120. Ärztetages vom 23. bis zum 26. Mai stehen, zu der die Kammer 250 Delegierte aus ganz Deutschland in Freiburg erwartet. Die Kammer vertritt rund 65 400 Ärzte in Baden-Württemberg.
Der Ärztemangel sei nicht einer rückläufigen Zahl von Medizinern geschuldet, erklärte Clever. Im Südwesten gebe es so viele Ärzte wie nie zuvor. Arbeitszeitgesetze in Kliniken und die veränderten Lebensentwürfe junger Ärzte hätten dazu geführt, dass sich heute mehrere Ärzte eine Stelle teilten, die früher von nur einem Arzt ausgefüllt wurde.
Die zunehmend weiblich werdende Ärzteschaft wünsche die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Angestelltenverhältnis. Der klassische rund um die Uhr verfügbare Landarzt sei ein Auslaufmodell und finde keine Nachfolger. Peter Hauk (CDU), Minister für den ländlichen Raum, betonte, dass vor allem ältere Patienten den Arzt ihres Vertrauens Auge in Auge sprechen möchten. „Wir brauchen deshalb dringend eine Landarztquote, die gezielt diejenigen Medizinstudenten unterstützt, die sich nach Abschluss des Studiums auf dem Land niederlassen möchten.“ Dies sieht die Ärztekammer kritisch, weil sich die jungen Menschen dann über ein Jahrzehnt hinweg verpflichten müssten. Clever verwies auch mit Blick auf die Krankenkassen, die eine falsche Verteilung der Ärzte monierten, auf die freie Berufswahl in Deutschland: „Wir sind keine Schachfiguren.“
Derzeit gibt es laut Ärztekammer im Land mehr als 100 Angebote von Praxisübernahmen für Hausärzte. Mindestens 20 Gemeinden suchen nach Allgemeinmedizinern. Clever: „In den nächsten fünf Jahren werden in Baden-Württemberg etwa 500 Hausärzte fehlen, weil niedergelassene Ärzte in den Ruhestand gehen und nicht genügend Nachwuchsmediziner zur Verfügung stehen.“
Wer als Gegenmittel die Zahl der Studienplätze erhöhen wolle, müsse zwölf Jahre auf erste Effekte warten, denn so lange dauerten Studium und Facharztweiterbildung. Verbünde zur vereinfachten Organisation von Weiterbildung, finanzielle Förderung durch das Land und die Kommunen hätten den Beruf bereits ein Stück weit attraktiver gemacht. Ähnliche Probleme wie die Ärztekammer drücken auch die Zahnärztekammer. Sie verzeichnet einen Engpass im ländlichen Bereich.
„Die Ballungsräume ziehen ganz stark an und auf dem Land finden die zahnärztlichen Kollegen kaum mehr Nachfolger“, sagte der Präsident der Landeszahnärztekammer, Torsten Tomppert, der Deutschen Presse-Agentur. Das könne auf lange Sicht zu einer Unterversorgung führen. So sei im Kreis Hohenlohe ein Drittel der Zahnmediziner älter als 60 Jahre und werde in absehbarer Zeit ausscheiden.