Die Spielzeit 2019/20 eröffnete die Badische Landesbühne in der Tauberbischofsheimer Stadthalle mit einer Theateradaption von Daniel Kehlmanns Weltbestseller "Die Vermessung der Welt", der auch den Weg in die Kinos fand. Das humorvoll inszenierte, mit dezenter klassischer Musik unterlegte Stück passte maßgerecht zum diesjährigen Motto Weltgeschehen. Regisseur Arne Retzlaff standen für seine szenische Einrichtung der 21 Figuren der Bühnenfassung von Dirk Engler nur sechs Darsteller zur Verfügung. So hatte etwa Sina Weiß in allein sieben Rollen Schwerstarbeit zu verrichten.
Wie im Roman waren die völlig gegensätzlichen Charaktere des preußisch-korrekten und zugleich abenteuerlustigen Alexander von Humboldt und des weltfremden, eher miesepetrigen Carl Friedrich Gauß ein belebendes Element des Theaterstücks, das im Verlaufe des Abends einige Längen aufwies, obwohl zwangsläufig auf etliche Handlungsstrände des Romans verzichtet werden musste. Fast unumgänglich war die vorherige Lektüre des Romans, um den Rückblenden aus dem Leben der beiden Forscher folgen zu können.
Historische Rückblenden
Wie in Kehlmanns Roman begann die fiktive Doppelbiografie mit einer Reise von Gauß zum historisch verbürgten Naturforscherkongress 1828 nach Berlin; dorthin hatte ihn Humboldt eingeladen und die beiden inzwischen gealterten Genies tauschten sich dann über ihre Projekte aus. Ein Foto erinnerte daran, dass man 15 Minuten stillstehen musste, bis der Erfinder Daguerre eine Jodsilberplatte dauerhaft beschichtet hatte. In Rückblenden wurden Szenen aus den sehr unterschiedlichen Lebensläufen der beiden Forscher erzählt.
Dass sie bei ihren Debatten darüber, wer der Vermessung der Erde als ihrem Lebensziel nähergekommen sei, den Bezug zur Realität etwas aus dem Auge verloren hatten, zeigte Eugen Gauß auf, den sein Vater verächtlich als Versager bezeichnete. Denn Sohn Eugen beteiligt sich am Kampf zwischen absoluter Restauration und Liberalismus und nationaler Bewegung und verteilte Flugblätter für ein freies Deutschland, bis er von der Polizei verhaftet wurde.
Größe und Komik
David Meyer und Martin Behlert verkörperten die beiden bedeutenden Wissenschaftler Humboldt und Gauß, die ungeniert als Sonderlinge im Alltag auftraten. Und dies deutete sich schon in frühen Jahren an, denn die Wissenschaftler traten als Marionettenpuppen auf, die Detlef Heinichen mit einem exzellenten Puppenspiel als vorlaute Schulbuben im Unterricht zeigte. Der kleine Gauß muss beim Herzog (Hannes Höchsmann) antanzen, um ein Stipendium, zu bekommen. Mit seinen Rechenstückchen bringt er den Landesherrn völlig aus der Fassung.
Mit dem unverstellten Nebeneinander von Größe und Komik gewann die Aufführung die Sympathien der Zuschauer, die sich über den ewigen Vermessungswahn und die Sammelwut von Humboldt genauso amüsieren konnten wie über den polternden und seine Umgebung beleidigenden Gauß. Wie im Roman räumte die Inszenierung genüsslich mit dem Bild vom großen Forscher auf, der alles unter Kontrolle hat.
Das machte ihn sympathisch, auch wenn Fiktion und Realität bei den absurd-komischen Szenen immer verschwommener wurden. Realität war, dass Humboldt zusammen mit Aimé Bonpland, gespielt von Elena Weber, die auch als Erzählerin auftrat, den Orinoko unter schwierigsten Bedingungen befuhr und entgegen der Lehrmeinung erkundete, dass eine natürliche Verbindung zwischen dem Orinoko und dem Amazonas existiert. Der Analytiker Gauß wies dagegen vom Schreibtisch aus die Krümmung des Raumes nach.
Schmerzender Backenzahn
Ein richtiger Abenteurer war dagegen Humboldt. Seine Besteigung des Chimborazo in Ecuador im Jahre 1802 demonstrieren David Meyer und Elena Weber mit einer Videoprojektion, die fantasievoll die Strapazen auf dem inaktiven, oben vergletscherten Vulkan nachempfinden lässt. Damals galt er als der höchste Berg der Welt; tatsächlich weiß man heute, dass es der Gipfel in 6263 Metern mit dem Punkt ist, der am weitesten vom Erdmittelpunkt entfernt ist. Humboldt und Bonpland waren ohne Handschuhe und mit nassen Schuhen unterwegs.
Über zwei Jahrhunderte später haben die Gletscher enorm an Eismasse verloren. Humboldt verdanken wir die erste Schilderung der Symptome der Höhenkrankheit und der Vegetationszonen. Bierernst ließ sich der Abend nicht genießen, denn die feine Ironie des Romans wurde auf den Bühnenbrettern zwangsläufig untergebuttert; die beiden Wissenschaftler wurden zu unterhaltsamen Witzfiguren. Stefan Holm glänzte als Goethe, Graf von der Ohe zu Ohe, als Lama oder als Wahrsager. Elena Weber brachte als Eugen Gauß frischen Wind in den Elfenbeinturm der Wissenschaftler und führte als Erzählerin in die neuen Szenen ein, die dank einer einfallsreichen Bühnenfassung und Ausstattung (Ella Späte) eine dramatische Handlung nur am Rande vermissen ließen.