„Ich möchte leben. Ich möchte lachen.“ Die Worte einer von den Nazis ermordeten jungen Jüdin, verlesen von Baden-Württembergs Sozialminister Manne Lucha, jagen den Zuhörern im Stuttgarter Parlament eine Gänsehaut ein. Mit dem Gedicht von Selma Meerbaum-Eisinger gibt Lucha mehr als 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs den Opfern von Judenhass und Rassismus eine Stimme.
Zu seiner bewegenden Rede sieht er sich wegen möglicherweise antisemitischen Äußerungen des AfD-Abgeordneten Wolfgang Gedeon berufen. Mit Blick auf das tragische Schicksal der jungen Frau verspricht der Grünen-Politiker: „Wir stehen dafür, dass das keinem anderen Menschen mehr geschieht.“ Die von den Grünen angeregte Debatte über ein „Modernes und weltoffenes Baden-Württemberg: Hier ist kein Platz für Diskriminierung und Antisemitismus“ wird zur Geschichtsstunde im Parlament. Die etablierten Parteien schließen sich zusammen, machen klar, dass im Hohen Haus kein Raum ist für Antisemiten und Rassisten. Der Liberale Ulrich Goll bringt es in Anspielung an die Islamkritik der AfD auf den Punkt: „Die AfD gehört nicht zu Baden-Württemberg.“
Hintergrund: Wolfgang Gedeon, Vorsitzender des AfD-Kreisverbands Konstanz, hatte in einem Buch das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin als Erinnerung an „gewisse Schandtaten“ und den Holocaust als „Zivilreligion des Westens“ bezeichnet. Er beschreibt sich als Antizionist und betont vor dem Landtagsmikrofon: „Ich bin kein Antisemit. Ich hetze nicht gegen Juden, ich verunglimpfe sie nicht, ich verachte sie nicht, nirgendwo.“
FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke entlarvt jedoch die Widersprüche in Gedeons Argumentation. Mit Blick auf die „Schandtaten“ der Nazis sagt er: „Was ist das denn anderes als die Relativierung des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte?“ Und ein Antizionist sei einer, der das Existenzrecht Israels in Frage stelle.
Die Empörung im Plenum erreicht ihren Höhepunkt, als der AfD-Abgeordnete Udo Stein einwirft: „Das ist schlimmer als in der Nazizeit.“ Dafür erhält er eine Rüge des Parlamentspräsidenten Wilfried Klenk (CDU). Später entschuldigt er sich.
Selbst in der eigenen Fraktion stößt er damit auf Kritik, die der Abgeordnete Heinrich Fiechtner zum Anlass nimmt, ans Rednerpult zu treten. Er distanziert sich von dem „Fehlgriff“ des Parteikollegen, erinnert an den von den Nazis ermordeten Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer und spricht von antisemistischen Linksextremisten. Zum Abschluss seiner wirren Ergüsse richtet der Stuttgarter Arzt den Blick wieder auf die Flüchtlinge. „Die Zuwanderung von jungen Muslimen bedeutet unweigerlich eine Ausbreitung des Antisemitismus.“
Um die Dramatik der Sitzung zu vervollständigen, zeigt der AfD-Abgeordnete Daniel Rottman sein weißes „I love Israel“-T-Shirt unterm Jackett. Gymnasiallehrer Kurt Keifenheim aus Bad Urach, der mit seiner neunten Klasse zu Besuch im Landtag ist, ist begeistert, dass er seinen Schülern eine „Superlehrstunde“ bieten kann. „Diesmal war es ideal für die Demokratieerziehung und gegen Geschichtsvergessenheit.“
Bis auf eine persönliche Erklärung tritt AfD-Fraktionschef Jörg Meuthen nicht ans Mikrofon. Darin beschwert er sich über einen „tief unanständigen Umgang“ mit ihm und distanziert sich von Rassismus und Antisemitismus, für die in seiner Partei und Fraktion kein Platz sei. Ob er sich mit dieser Position durchsetzt, ist fraglich.