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Karlstadt
Zeitreise mit dem Grammophon: Jo van Nelsen über Kabarett im KZ
Mit eindrucksvollen Worten, teilweise mit bitterem Humor und dem originalen Klang von uralten Schellackplatzen nahm sich Jo van Nelsen der Schicksale von Menschen an, die vom Nazi-Regime verfolgt wurden.
Foto: Günter Roth | Mit eindrucksvollen Worten, teilweise mit bitterem Humor und dem originalen Klang von uralten Schellackplatzen nahm sich Jo van Nelsen der Schicksale von Menschen an, die vom Nazi-Regime verfolgt wurden.
Günter Roth
 |  aktualisiert: 10.11.2021 02:57 Uhr

Die Kunst konnte Menschen ins Konzentrationslager bringen, sie konnte ihnen aber auch helfen, dort zu überleben – zumindest eine Zeitlang. Vor rund 30 Zuhörern erzählte der Kabarettist Jo van Nelsen im Karlstadter Rathaussaal von Menschen wie Isa Vermehren, Paul O'Montis, Kurt Gerron und Willy Rosen, die mit ihrer Kunst und mit ihren offen formulierten Gedanken in den 1930er-Jahren von den Nationalsozialisten verfolgt oder gar ermordet wurden. Das verbindende Glied war für van Nelsen das Grammophon auf dem Bühnentisch, mit dem er seinem Publikum originale Schellackplatten mit den Protagonisten vorführte.

Juden, Homosexuelle und künstlerische Freigeister standen grundsätzlich im Fadenkreuz der Machthaber. Mancher wurde auch wegen seiner Familie in Sippenhaft genommen, wie Isa Vermehren, die als junge Frau in Berlin wegen ihrer frechen Lieder "mit Schalk auf den Lippen" im politisch-literarischen Kabarett "Katakombe" von Werner Finck Furore machte. Wegen politischer Agitationen ihrer Familie wurde sie zunächst in mehrere Konzentrationslager verschleppt, bis sie im April 1945 in Niederdorf (Südtirol) befreit wurde. Nach dem Krieg studierte Vermehren katholische Theologie, wurde Religionslehrerin und Ordensschwester. Von 1983 bis 1995 wurde sie durch die ARD-Reihe "Wort zum Sonntag" bekannt.

Versteckte Sticheleien in scheinbar harmlosen Liedern

Jo van Nelson verstand es bestens, die frechen Interpretationen der Kabarettistin mit ihrem Akkordeon vorzustellen, die Vielzahl von versteckten Sticheleien gegen das Regime in scheinbar harmlosen Liedern deutlich zu machen und mit bitterem Humor die wachsende Sorge der Machthaber vor dem Kabarett zu begründen.

Seine Homosexualität wurde Paul O'Montis zum Verhängnis. Der Kabarettist und Sänger, wegen seiner Stimme und den launig persiflierten Liedern (Was kann der Sigismund dafür..) bekannt und beliebt, erkannte die wachsende Gefahr durch die Nazis und floh nach Wien und Prag, wurde aber dort festgenommen und als "Rosa-Winkel-Häftling" nach Lódz verschleppt. Im KZ Sachsenhausen nahm er sich angeblich das Leben.

Isa Vermehren wurde wegen politischer Agitationen in mehrere Konzentrationslager gebracht, überlebte aber. 
Foto: Günter Roth | Isa Vermehren wurde wegen politischer Agitationen in mehrere Konzentrationslager gebracht, überlebte aber. 

Besonders tragisch ist das Schicksal des Juden Kurt Gerron. Der Sänger, Kabarettist und Filmemacher wurde unter anderem durch den "Mackie Messer Song" in der "Dreigroschenoper" bekannt. Auch er floh mit seiner Familie, geriet aber in Amsterdam schließlich in die Gewalt der Nazis und wurde in das niederländische Durchgangslager Westerbork deportiert.

Dort herrschte eine perverse Parallelwelt für die inhaftierten Künstler. Der Lagerleiter begeisterte sich für Musik und Theater und förderte eine "Lagerbühne", auf der die Häftlinge scheinbar frei und ungezwungen auftreten und vor Publikum spielen durften. "Wenn ich spielte, vergaß ich wo ich stand. Gefühlt waren wir woanders", sagte Kurt Gerron angesichts dieser Situation, die immer den Abtransport ins Vernichtungslager beinhaltete. Ende Februar 1944 erfolgte die Deportation nach Theresienstadt.

Der Rote Faden war das Grammophon

Um Zeit für sich und seine Freunde zu gewinnen, ließ sich Gerron überzeugen, einen Propagandafilm über die angeblich mustergültigen Zustände in Theresienstadt zu drehen. Der zynische Titel: "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt". Ende Oktober – kaum ein halbes Jahr vor der Befreiung – fand er aber dennoch den Tod in der Gaskammer von Auschwitz.

Das alte Grammophon auf dem Tisch neben Jo van Nelsen war das Verbindungsglied der vorgestellten Schicksale. Der Kabarettist verstand es, mithilfe der originalen Tonaufnahmen eine innere Nähe zu schaffen und gleichzeitig aber auch die heute kaum mehr nachvollziehbare Spannung zwischen Aufbegehren mit brillantem offenen oder versteckten Wortwitz und den furchtbaren Folgen für die mutigen Nazigegner vor Augen oder vor Ohren zu führen.

 
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