Es kaufte sich eine ältere Frau im Schnellrestaurant einen Teller Suppe. Behutsam trug sie die dampfende Köstlichkeit an einen Stehtisch und hängte ihre Handtasche darunter. Dann ging sie noch einmal zur Theke: den Löffel hatte sie vergessen.
Als sie zum Tisch zurückkehrte, stand dort doch tatsächlich einer jener Afrikaner – schwarz, Kraushaar, bunt wie ein Paradiesvogel – und löffelte die Suppe. Zuerst schaute die Frau ganz verdutzt; dann aber besann sie sich, lächelte ihn an und begann, ihren Löffel zu dem seinen in den Teller zu tauchen. Sie aßen gemeinsam.
Nach der Mahlzeit – unterhalten konnten sie sich kaum – spendierte der junge Mann ihr noch einen Kaffee. Er verabschiedete sich höflich. Als die Frau gehen wollte und unter den Tisch zur Handtasche greifen will, findet sie nichts – alles weg. Also doch ein gemeiner, hinterhältiger Spitzbube. Ich hätte es mir doch gleich denken können – Gemeinheit! Enttäuscht, mit rotem Gesicht schaut sie sich um. Er ist spurlos verschwunden. Aber am Nachbartisch erblickt sie einen Teller Suppe, inzwischen kalt geworden. Darunter hängt ihre Handtasche.
"Peinlich, peinlich", mag man der älteren Dame aus dieser Geschichte zurufen. Nicht nur, dass sie aufgrund ihrer Verwechslung – ihres "Sehfehlers" – selbst vom falschen Teller isst und die Freundlichkeit und Gastfreundschaft des Afrikaners stark strapaziert, nein, aufgrund ihres Vorurteils verdächtigt sie ihn dann sogar des Taschendiebstahls.
Das Auge ist für uns Menschen eines der wichtigsten Sinnesorgane. Das, was wir sehen, bestimmt häufig das Bild, das wir von etwas haben. Manche sagen sogar: "Ich glaube nicht, was ich nicht selbst mit eigenen Augen gesehen habe." Dabei kann sich unser Auge auch irren. Optische Täuschungen sind ein Beispiel. Oft ist auch ein zu flüchtiger Blick, also ein nicht genaues Hinsehen, Ursache für ein "Versehen", das wir nachher bereuen. Auch bei der Beurteilung von Menschen sind unsere Augen häufig maßgeblich beteiligt. Aber wie leicht lassen wir uns da blenden.
Nicht nur, dass wir selbst andere nach diesen Maßstäben beurteilen, sondern wir selbst werden von unseren Mitmenschen ebenfalls oft nach unserem Äußeren bewertet. Wie gut, dass bei Gott diese Maßstäbe nicht gelten: "Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an." (1. Samuel 16,7).
Was im Herzen vor sich geht, ist mit den Augen nicht zu sehen. Dass Gott das Herz ansieht, ist eine Wohltat. Gott sieht das, was verborgen ist. Er sieht bereits jetzt das, was werden soll, was er aus uns machen wird.
Auch wenn ich froh bin, dass ich noch gute Augen habe, möchte ich doch lernen, mich nicht nur auf sie zu verlassen. Gerade wenn ich neue Menschen kennenlerne, möchte ich ihnen die Chance geben, dass mein Bild von ihnen nicht nur von Äußerlichkeiten oder gar vom ersten Blick geprägt ist, sondern ich möchte ihr Wesen kennenlernen, bevor ich mir eine Meinung über sie bilde.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gesegnete und begegnungsreiche Zeit.
Der Autor: Manfred Dorsch aus Gemünden, Prädikant im evangelischen Dekanat Lohr.