
Bis in jedes Dorf reichte das Überwachungssystem des Nazi-Regimes. Sogar als US-Soldaten im April 1945 schon in Rieneck standen, traute sich in Wolfsmünster niemand, die weiße Fahne ans Fenster zu hängen. Rita Amersbach, geborene Schmelz, weiß aus ihrer Kindheit von fanatischen Nazis, aber auch von Momenten des Widerspruchs. Ihre Erinnerungen schilderte sie vor zehn Jahren der Main-Post.
Die Geburt ihres jüngsten Bruders Rudi war das letzte freudige Ereignis, bevor der Krieg nach Wolfsmünster kam. Rudi kam Ende Februar 1945 zur Welt. Die Familie war zu dieser Zeit noch beisammen. Ritas Vater Michael arbeitete als Heizer für die Reichsbahn und war deshalb öfters zu Hause. Erst die Besetzung von Gemünden war für viele Wolfsmünsterer das Zeichen, dass der Krieg verloren war. Die Angst ging um im Dorf. „Die Amerikaner könnten von Rieneck aus nach Wolfsmünster einrücken“, erzählte man sich.
Das Wort „Weiße Fahne“ machte die Runde – wann sollte man sich ergeben? Eines Nachts hing tatsächlich ein weißes Bettlaken am Kirchturm. In Nazi-Deutschland war das sogar wenige Tage vor Kriegsende noch lebensgefährlich. Die Eltern von Rita Amersbach waren beunruhigt; zwei Cousinen ihres Vaters Michael Schmelz waren in Rengersbrunn für eine weiße Fahne erschossen worden. Ein heimgekehrter Verwundeter, Anton Marx, setzte durch, das Laken wieder einzuholen. Doch nur einen Tag später war bereits die Geheime Staatspolizei (Gestapo) im Dorf. Bürgermeister Andreas Häusler, Lehrer Theo Martin und Altbürgermeister Josef Reusch wurden abgeführt. Jeder befürchtete das Schlimmste. Irgendwann erfuhr man im Dorf, dass sie in das Gefängnis Ebrach im Steigerwald gebracht wurden. Zum Kriegsende kamen die drei wieder frei.
Am 3. April lagerten Wehrmachtssoldaten in Wolfsmünster. Am selben Tag trafen auch Männer und Jungen vom Volkssturm ein, unter ihnen ein 15-jähriger Bursche, der Sohn eines SS-Offiziers aus Düsseldorf. Weil er einen Karabiner und eine Pistole führte, glaubte er, jeden herumkommandieren zu können. Das ließ sich Michael Schmelz nicht gefallen. Er drohte ihm mit der Mistgabel und rief: „Von einem so jungen Schnüdel wie dir lass ich mich noch lange nicht rumkommandieren!“ Seine Söhne Hubert und Josef applaudierten ihm, aber Ottilie Schmelz erschrak, als sie sah, dass ihr Mann dem Burschen den Karabiner entrissen hatte: „Michel, hör auf! Willst du uns alle ins Unglück bringen?“ Doch die Sorge um diesen Vorfall dauerte nur noch zwei Tage. Dann marschierten US-amerikanische Soldaten in Wolfsmünster ein. Vor der Einnahme hatte auch das Dorf Beschuss erhalten: Nach einem Knall stand die Hummels-Scheune in Flammen. Die Männer fanden Frieda Hummel schwer verletzt, aber am Leben. Dann brachten sie das Vieh in Sicherheit. Gustav Schmied war derweil zum Saaleufer gelaufen. Er wollte die Feuerwehrpumpe in Gang setzen, um die Scheune zu löschen. Als ihm das nicht gelang, mussten die Dörfler das Wasser mit einer Eimerkette heranschaffen. Es gelang ihnen schließlich, die Scheune zu löschen. Dann verkrochen sie sich wieder in den Kellern, um das Ende der Kämpfe abzuwarten.
Erst nach zwei Tagen kam Entwarnung. Als sich die Erwachsenen wieder auf die Straße trauten, brüllten die Kühe mit vollen Eutern vor Schmerz und Durst. Doch kaum waren die Tiere versorgt, heulten die Sirenen wieder auf – die US-Armee rückte nach Wolfsmünster ein. Rita Amersbach musste noch eine Nacht im Keller verbringen, denn eine Einheit der deutschen Wehrmacht stand auf dem Riedberg und schoss aufs Dorf. Als Michael Schmelz am nächsten Morgen den Keller verließ, sah er, dass sein Haus getroffen worden war. Über die eingestürzte Wand blickte er nach oben in sein Schlafzimmer. Der Spiegel war zerbrochen, sein Ehebett auseinandergerissen.