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EUßENHEIM
„Wir sind durch die Hölle gegangen“
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Foto: Björn Kohlhepp
Lukas Will
Lukas Will
 |  aktualisiert: 16.12.2021 11:27 Uhr

Es ist das Schlimmste, was Eltern passieren kann: den Tod des eigenen Kindes miterleben. Jens und Heike Dallig aus Eußenheim verloren vor zehn Jahren ihre Tochter Anne bei einem Verkehrsunfall im Landkreis Main-Spessart. Sie war erst 18 Jahre alt. Für die Eltern brach eine Welt zusammen, der Tag des Unfalls hat ihr Leben für immer verändert. „Die ersten Jahre sind wir durch die Hölle gegangen“, sagt Heike Dallig. Inzwischen hat das Ehepaar den Weg in ein Leben zurückgefunden, das nie mehr so sein wird, wie es früher einmal war.

Anne bereitete sich gerade auf ihre Prüfung zur Zahnmedizinischen Fachangestellten vor. Die 18-Jährige hatte wie verrückt gelernt, nur um gut durch die Prüfung zu kommen. Ihre Bücher und Ordner lagen überall in ihrem Zimmer verstreut. Gemeinsam mit ihrem Freund schmiedete sie Pläne für eine eigene Wohnung, Möbel, Reisen. Anne wollte in ihr eigenes Leben starten. Doch dazu kam es nie.

Zu ihrem 18. Geburtstag bekam Anne von ihren Eltern ein eigenes Auto geschenkt. Wenige Monate später fährt die Auszubildende am Morgen des 15. Mai 2007 damit von zu Hause los zu ihrem Arbeitsplatz nach Lohr. Sie verabschiedet sich bei ihrem Vater, der an diesem Tag frei hat, wie immer mit einem Lächeln und dem Satz „Tschüss Papa, bis heute Abend“.

Der Frontalzusammenstoß

Auf dem Weg zwischen Karlstadt und Lohr liegt der Wiesenfelder Berg. Dieser kurze, kurvige Abschnitt auf der Landstraße ist berüchtigt für seine häufigen und schweren Unfälle. Zahlreiche Kreuze am Straßenrand erinnern an die Unfalltoten.

Anne muss die Gefahr gekannt haben. Sie fährt mit weniger als den erlaubten 80 Kilometern pro Stunde die steile Waldstrecke herunter. Bergauf kommt ihr ein BMW mit einem 19-Jährigen am Steuer entgegen. Mit mehr als 100 Stundenkilometern schneidet der Fahrer eine Linkskurve und kracht frontal in Annes Auto.

Wenig später hört Jens Dallig eine Verkehrsmeldung im Radio. Wieder ein Unfall am Wiesenfelder Berg, die Strecke ist gesperrt. Er macht sich Sorgen, ruft auf Annes Handy an, doch kann sie nicht erreichen. Beunruhigt setzt er sich ins Auto und macht sich auf den Weg nach Lohr. Als er am Wiesenfelder Berg ankommt, erfährt er von der Polizei, dass seine Tochter mit schweren Verletzungen im Krankenhaus liegt. Einen Tag später müssen die Eltern die lebenserhaltenden Maschinen abschalten lassen.

„Am Anfang gibt man sich selbst die Schuld. Das macht dich kaputt“, sagt Jens Dallig und denkt an das Auto, das sie ihrer Tochter geschenkt haben. „Es braucht lange, bis man sich keine Vorwürfe mehr macht.“ Besonders schlimm waren die ersten Jahre nach dem Unfall. Freunde wendeten sich ab, Depressionen kamen. „Ich habe mich verändert“, sagt Jens Dallig. „Zeitweise war ich richtig aggressiv.“ Die beiden mieden Familienfeste und Geburtstagsfeiern, bei denen Anne besonders fehlt. „Wir haben uns damals zurückgezogen“, sagt Heike Dallig. „An Weihnachten oder Ostern ist es bis heute besonders schlimm.“

„Es sind nur ganz wenige Freunde von uns übrig geblieben“, sagt sie. Viele in ihrem Umfeld konnten mit der Tragödie nicht umgehen, wollten sich selbst nicht damit belasten oder konnten nicht den schweren Weg mitgehen, den die Dalligs zu beschreiten hatten. „Oft hat man zu uns auch Dinge gesagt wie ,wird schon wieder‘ oder ,das Leben geht weiter‘“, erzählt die Mutter. Das hat sie damals wütend gemacht. Heute weiß sie, dass viele Menschen nicht die richtigen Worte für solch eine Situation finden, und sieht das gelassener.

Manche meiden die Trauernden

„Die Leute haben Angst, mit Trauernden umzugehen“, spricht die Altenpflegerin aus Erfahrung. Manche wollten es wegschweigen und meiden die Trauernden. Andere versuchen sich mit platten Sprüchen zu behelfen. Beides sei falsch, sagt Heike Dallig. „Man sollte auf den Betroffenen zugehen, ihn in den Arm nehmen, zeigen, dass man da ist. Wenn das nicht gewollt wird, sagt derjenige das schon. Da muss man aber keine Angst haben. Die meisten trauen sich nicht, die Trauernden darauf anzusprechen.“

Nicht nur Freundschaften zerbrechen in solchen Extremsituationen. Auch Beziehungen gehen oft kaputt, wenn das gemeinsame Kind stirbt. „Bei uns war das anders. Es hat uns zusammengeschweißt“, sagt die 51-Jährige. „Ich musste an unsere Tochter denken und was sie sagen würde, wenn wir uns trennen.“ Also standen sie einander bei, aber ermöglichten sich auch jeweils den benötigten Freiraum. „Jeder trauert anders“, sagt Heike Dallig. „Wir haben uns das gegenseitig zugestanden.“

So haben ihr das Austauschen in einer Selbsthilfegruppe und lange, einsame Spaziergänge im Wald geholfen. Jens Dallig hat ein Jahr gebraucht, bis er wieder als Lastkraftwagenfahrer arbeiten konnte. Ihm haben anfangs Tabletten und dann eine Psychotherapie geholfen. Zusammen mit Freunden von Anne hat der Vater auch die Homepage anne-dallig.de eingerichtet. Bilder, Texte und ein Gästebuch sollen dabei helfen, seine Tochter nicht vergessen zu lassen. Auch wenn Anne tot ist, ist sie noch immer Teil der Familie.

Der Schmerz verändert sich

Die Trauer ist seit zehn Jahren ein ständiger Begleiter. „Der Schmerz ist anders geworden, aber nicht weniger. Irgendwie funktioniert man“, sagt Jens Dallig. „Am meisten habe ich mich gefragt, was Anne in den letzten Minuten gedacht hat.“ Er hofft und glaubt daran, dass der Unfall so schnell ablief, dass seine Tochter nicht leiden musste.

Vieles hat sich seit dem 15. Mai 2007 geändert: Die Dalligs sind umgezogen, haben ein Pflegekind aufgenommen, einen Hund sowie einen SUV mit großer Knautschzone angeschafft. Auch mental sind die Dalligs nicht mehr die Menschen von früher. „Die ganze Einstellung zum Leben hat sich geändert“, so der 54-Jährige. „Unsere Aufgabe war auf einmal weg.“ Also haben sie versucht, ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben. „Wir leben jetzt viel bewusster“, sagt der Vater, und seine Frau ergänzt: „Wir machen nur noch das, was uns Spaß macht, und umgeben uns mit Leuten, die uns verstehen.“ Geld sei nicht mehr so wichtig, große Pläne werden auch nicht mehr gemacht. „Wir trennen uns außerdem nie im Streit“, sagt Jens Dallig. „Wir wissen jetzt, wie schnell das Leben vorbei sein kann.“

Der junge Unfallverursacher von damals wurde laut den Dalligs zu einer Geldstrafe in Höhe von 2700 Euro verurteilt und hat ein 15-monatiges Fahrverbot bekommen. „Das hat sich überhaupt nicht wie Gerechtigkeit angefühlt“, sagt Heike Dallig. „Aber auch zehn Jahre Gefängnis hätten da nicht geholfen“, fügt ihr Mann hinzu.

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Foto: Lukas Will

Die Dalligs glauben, dass der Wiesenfelder Berg inzwischen durch die vorgenommene Auslichtung und Begradigung der Straße nicht mehr so gefährlich ist, wie er früher einmal war. Dennoch passieren dort immer wieder schwere Unfälle, zuletzt starb dort im November eine 20-Jährige. Auf der gesamten Strecke zwischen Karlstadt und Lohr waren es seit der Jahrtausendwende insgesamt zwölf Todesopfer. „Aufklärung hilft wenig“, meint Jens Dallig. Neben den nicht zu vermeidenden Unglücken gebe es viel zu häufig noch Unfälle durch Ablenkung aufgrund des Smartphones oder nicht angemessener Fahrweise. Als Lastkraftwagenfahrer beobachtet er täglich solche Situationen.

Irgendwann, wenn sie in Rente sind, wollen die Dalligs woanders hinziehen. Wohin genau, wissen sie noch nicht. Hauptsache dorthin, wo es schön ist. „Wir haben gelernt, mit dem Schmerz zu leben“, sagt Heike Dallig. „Aber er wird immer bleiben“, ergänzt ihr Mann.

 
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