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KARLSTADT
"Wir sind dem Essen gegenüber machtlos"
Von Dick bis Dünn: Essstörungen haben vielerlei Gesichter – nicht nur das Äußerliche, das man sieht, sondern meist auch ein quälendes Inneres.
Foto: Montage Thinkstock/Main-Post | Von Dick bis Dünn: Essstörungen haben vielerlei Gesichter – nicht nur das Äußerliche, das man sieht, sondern meist auch ein quälendes Inneres.
Klaus Gimmler
 |  aktualisiert: 28.08.2015 17:10 Uhr

Sie stopfen sich voll, bis es nicht mehr geht, manche übergeben sich anschließend oder nehmen Abführmittel, die den Darm zerstören. Andere wiederum ekeln sich vor Essen. All diesen Menschen gemein ist, dass sie unter einem gestörten Essverhalten leiden. Dies gilt auch für zwei Frauen aus dem Landkreis Main-Spessart. Sie haben sich der Selbsthilfegruppe Overeaters Anonymous angeschlossen und erzählen von ihrem Sucht.

Petra G. und Heike T. (die Namen sind von der Redaktion geändert) sind beide keine Teenager mehr. Ihre Augen sind klar, das Erscheinungsbild gepflegt und sie können sich gut ausdrücken. Man würde sie nicht für krank halten und doch sind sie es. „Wir sind dem Essen gegenüber machtlos“, sagen sie. Gemeinsam ist ihnen: Sie hatten nie ein normales Essverhalten.

Begleiterscheinung: Depressionen

Dieses Eingeständnis des eigenen Suchtverhaltens ist für sie sehr wichtig und dies ist auch eine Voraussetzung, um bei der Selbsthilfegruppe Overeaters Anoynmous mitzumachen. Darin ähneln sie den Anonymen Alkoholikern, bei denen ebenso eine Anerkennung des eigenen Suchtverhaltens gefordert ist.

Das Essverhalten der beiden Frauen war immer gestört. Hinzu kamen Depressionen und weitere gesundheitliche Probleme infolge der Mangelernährung. „Meine einzige Freude war, wenn die Waage weiter nach unten ging“, sagt Heike T.

Das ist für Nicht-Betroffene kaum zu verstehen. Heike T. erzählt, dass es Zeiten gab, da habe sie nur noch 36 Kilogramm gewogen. Wie kann man sich da freuen, wenn man weiter Gewicht verliert – und dies im vollen Bewusstsein, dass eine weitere Gewichtsabnahme lebensgefährlich ist? Heike T. zuckt die Achseln. Nein, eine Erklärung gebe es dafür nicht. Ihre Sucht sei aber stärker als rationale Erklärungen gewesen.

Essen, um geliebt zu werden

Viele Gedanken haben sich beide gemacht, um zu ergründen, wie es zu ihrem gestörten Essverhalten kam. „Als Kind habe ich gegessen, um geliebt zu werden“, sagt Heike T. „Was für ein liebes Kind“ habe es geheißen, wenn sie alles aufgegessen hat. Irgendwann habe sie dann das Gefühl gehabt, dass das Essen das einzige ist, was ihr Freude bereitet. Trotzdem habe sie nie mehr als 65 Kilogramm gewogen.

Dann kam der Wendepunkt, als Heike T. Mitte 20 war. Warum, weiß sie nicht. Sie erinnert sich an kein Ereignis, dass ihren Wechsel im Essverhalten ausgelöst hat. Fortan hungerte sie radikal. Rückblickend bezeichnet sie das als „Lust, sich selbst zu zerstören“. Das Gegessene wieder erbrochen habe sie nie, dafür aber starke Abführmittel benutzt, die den Darm kaputt gemacht haben. Es klingt verrückt, aber sie habe damals ihren Wert alleine aus ihren Hungerkünsten gezogen.

Bei Petra G. war es ähnlich, allerdings habe sie schon als Teenager gehungert. Sie habe sich mit knapp 70 Kilogramm zu dick gefühlt und ein Arzt habe ihr das auch bestätigt. Als Auszubildende in einem Friseurladen habe sie dann nur noch Wasser getrunken und abends dann kaum was gegessen. Bei ihr entwickelte sich das klassische Krankheitsbild einer Bulimie mit Hungern, Fressattacken und dem anschließenden Erbrechen des Gegessenen. Dies habe sie als Lust empfunden und daraus Befriedigung gezogen. Zugleich habe sie sich auch geschämt und versucht, dieses Verhalten vor ihrer Umwelt geheim zu halten.

Das gelingt natürlich nicht. Die Menschen, die ihr nahestehen, sahen ihren Zustand. Es folgten gut gemeinte Ratschläge, Bitten und auch Wutausbrüche ihres Lebenspartners. Der habe eine zeitlang die Speisekammer abgeschlossen. Genutzt habe es alles nichts. Über Jahrzehnte lebte sie ihre Sucht und magerte immer weiter ab – bis auf 46 Kilo Anfang der 2000er Jahre. Dann sei sie körperlich zusammengebrochen und wurde wieder aufgefüttert. Doch für eine echte Hilfe sei sie selbst damals immer noch nicht zugänglich gewesen.

Sucht als Lustgefühl gespeichert

Heute machen beide Frauen einen gefestigten Eindruck, aber als geheilt bezeichnen sich beide nicht. „Das Suchtverhalten ist fest gespeichert als Lustgefühl in unserem Kopf“, wissen sie. Geholfen habe ihnen die Selbsthilfegruppe Overeaters Anonymous, die sich wöchentlich in Würzburg trifft. Da finden sich Betroffene zusammen, die von ihrem Suchtverhalten erzählen. „Es tut gut, verstanden zu werden“, sagen sie.

Die Selbsthilfegruppe geht nach dem gleichen Konzept wie die Anonymen Alkoholiker vor. Voraussetzung für die Teilnahme ist das Eingeständnis der eigenen Sucht. Die Selbsthilfegruppe stellt keine Essenspläne auf, sondern sie orientiert sich in zwölf Schritten an einem Genesungsprogramm, das die Essstörung als körperliche, geistige und seelische Krankheit begreift.

Overeaters Anonymous

Für Menschen, die unter zwanghaftem Essverhalten leiden, hat sich die Selbsthilfegruppe Overeaters Anonymous gegründet. Das Leiden kann sich in verschiedenen Formen äußern. Deutlich sichtbar wird es bei starkem Über- oder Untergewicht. Aber auch Menschen mit Idealfigur können unter zwanghaftem Essen leiden. In diesem Fall wird das Gewicht durch Erbrechen (Bulimie), übermäßigen Sport oder Abführmittelmissbrauch kontrolliert.

Scham, Verzweiflung und Ohnmachtsgefühle gegenüber dem Essen werden zur großen Belastung für die Betroffen. Um das zwanghafte Essverhalten vor den Mitmenschen zu verbergen, werden soziale Kontakte zunehmend gemieden. Diese Isolation verstärkt die Probleme noch mehr. Das zwanghafte Essverhalten ist ein Versuch, unangenehme Gefühle wie Wut, Angst, Verzweiflung oder Lebensschmerz zuzudecken.

Obwohl die Selbsthilfegruppe auf spirituellen Prinzipien basiert, handelt es sich nicht um ein religiöses Programm. In ihr sind Menschen mit unterschiedlichen Religionen aber auch Atheisten und Agnostiker vertreten. Jeder ist willkommen. Auch gibt es keine Mitgliedsbeiträge oder Gebühren. Die Selbsthilfegruppe lebt von Spenden.

Die Treffen in Würzburg sind mittwochs ab 18.30 Uhr in der Scanzonistraße 4 im Selbsthilfehaus und samstags ab 18 Uhr in der Reiserstraße 7 in der Villa Kunterbunt. Kontakttelefonnummern sind zu erfragen beim Selbsthilfebüro Main-Spessart in Karlstadt unter Tel. (0 93 53) 98 17 86. TEXT: GI

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