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Lohr
Wie Schneewittchen zur Rebellin wurde
In Lohr befindet sich vermutlich das einzig erhaltene Exponat dieses Schulwandbildes von Schneewittchen. Eduard Stenger und Bettina Merz kümmern sich um das große Inventar. 
Foto: Bianca Löbbert | In Lohr befindet sich vermutlich das einzig erhaltene Exponat dieses Schulwandbildes von Schneewittchen. Eduard Stenger und Bettina Merz kümmern sich um das große Inventar. 
Bearbeitet von Bianca Löbbert
 |  aktualisiert: 13.01.2025 02:29 Uhr

Für den unbedarften Betrachter ist es wohl kaum etwas Besonderes. Ein Schneewittchenbild in Lohr, was soll daran außergewöhnlich sein? Doch reist man in der Zeit zurück und lässt sich auf die Geschichte ein, wird schnell klar: Im Schaufenster des Fischerhauses hängt ein Exponat, das seinesgleichen sucht – in Deutschland gewiss und vermutlich im gesamten deutschsprachigen Raum. Eine märchenhafte Darstellung, die nicht nur ein Stück Zeitgeschichte dokumentiert, sondern zu ihrer Zeit eine Rebellion gegen die eigene Epoche.

In mystischer Raunachtstimmung liegt Schneewittchen in weißem Kleid in ihrem gläsernen Sarg, darunter ein einsamer Zwerg, in tiefe Trauer versunken. Eigentlich für den Unterricht geschaffen, rebellierte dieses Bild gegen alles, was im damaligen Schulwesen konform war. Entstanden ist es 1905, erschaffen von der österreichischen Künstlerin Emilie Mediz-Pelikan.

Nichts für den Unterricht

"Für den Unterricht war dieses Schulwandbild nicht zu gebrauchen. Die Kinder sollten ja durch die lebhaften und bildhaften Darstellungen zum Sprechen animiert werden. Aber dieses Bild macht in seiner Darstellung von der Würde des Todes und der Trauer einfach nur sprachlos", sagt Eduard Stenger. Der Leiter des Lohrer Schulmuseums hat es trotzdem, oder gerade deswegen, für seine Ausstellung "Körper, Geist, Seele – Schulwandbilder von 1870 bis 1970" ausgewählt. Zu sehen ist die Ausstellung noch bis März im Fischerhaus neben der Lohrer Pfarrkirche.

Die Mystik, das Märchenhafte steht ganz bewusst am Beginn der Ausstellung, der viele Schulwandbilder aus den Bereichen Körper, Geist und Seele folgen. Schulwandbilder: Der jüngeren Generation sind diese wohl kaum noch ein Begriff. Und viele mögen sich beim Vorbeischlendern am Lohrer Fischerhaus fragen, wozu diese historisch anmutenden Darstellungen einst gebraucht wurden. Darstellungen über den Aufbau des menschlichen Körpers, über Erfindungen, über Ackerbau und Viehzucht oder über Religion.

Bilder bilden, auch heute noch

"Bilder bilden", sagt Lutz Dathe aus Leipzig, Experte für Schulwandbilder. "Das ist doch heute noch so. Nur die Medien haben sich verändert", erklärt Dathe. Über Fotos und Beamer hin zu Filmen und digitalen Medien. Heute transportiert das iPad die visuellen Lernmaterialien. Das Schulwandbild ist ein Relikt und gehört ins Museum.

Und genau dort hat Dathe das einzigartige Schulwandbild von Schneewittchen entdeckt: in der Sammlung des Lohrers Eduard Stenger. Er hat in mehr als 40 Jahren rund 6000 Schulwandbilder aus ganz Deutschland zusammengetragen. "Es war mir völlig schleierhaft, dass ich so eine Rarität dazwischen habe", sagt Stenger. Jahrzehntelang ist der ehemalige Lehrer kreuz und quer durch Deutschland gefahren, hat vor allem Grund- und Hauptschulen besucht, Hausmeister bestochen, Bananen in die ehemalige DDR gebracht oder die Bilder einfach so erhalten.

"Vor allem in den 70er- und 80er-Jahren wurden viele Schulen renoviert und hatten dann keine Dachböden und Aufbewahrungsmöglichkeiten mehr", erklärt Stenger. Die alten, nicht mehr genutzten Schulwandbilder, seien so nach und nach aus den Schulen verschwunden – und landeten zum Teil in Lohr.

Einzigartiges Exponat

"Wo genau das Schneewittchenbild herkommt, weiß ich tatsächlich nicht mehr", sagt Stenger. Gewiss sei aber inzwischen, dass dieses Bild ein einzigartiges Exponat sei. Das bestätigen auch Lutz und Martina Dathe, ihres Zeichens Experten auf diesem Gebiet. Ihr besonderes Interesse gilt der kunstwissenschaftlichen Erforschung des Märchen-Schulwandbildes und der Märchenillustration.

Der von ihnen verfasste umfangreiche Katalog "Mit und ohne Zeigestock – die Märchen der Brüder Grimm auf Schulwandbildern" erfasst und behandelt alle Bilder, die im Laufe der wechselvollen Schulgeschichte im deutschsprachigen Raum des gesamten 20. Jahrhunderts erschienen und heute ein wichtiger Teil der Märchenkultur sind. Seit den Neunzigern sind sie durch ihre gemeinsame Leidenschaft eng mit Sammlerfreund Eduard Stenger verbunden.

"Nach unseren Recherchen ist das Schneewittchenbild einzigartig im gesamten deutschsprachigen Raum", sagt Lutz Dathe. Was dieses Bild mit der immensen künstlerischen Ausdruckskraft zu so einem besonderen Schatz macht: Es gehört nicht nur zu den allerersten Schulwandbildern aus der Zeit um 1905 zum Thema Märchen überhaupt. Sondern es widersprach auch all den pädagogischen Grundsätzen im Wilhelminischen Deutschland.

Nacherzählen sollte Sprachfertigkeit fördern

"Das Bild fällt komplett aus der Rolle", erklärt Dathe. Gedacht gewesen sei vom Herausgeber, anhand einer konsequent realistischen Bilddarstellung, den Märchenstoff im Schulunterricht einzuführen. Durch Nacherzählen des Märchens sollten die mündlichen und schriftlichen Sprachfertigkeiten der Kinder gefördert und ein national geprägtes Geschichtsbewusstsein vermittelt werden. "Die Kinder sollten klare moralische Wertmaßstäbe lernen, die Unterscheidung zwischen Gut und Böse", erklärt Dathe.

Die Künstlerin Emilie Mediz-Pelikan hatte wohl anderes im Sinn. Sie stand der Kunstrichtung des Symbolismus nahe und wollte mit ihrer Darstellung des trauernden Zwerges vor allem die seelische Betroffenheit im Märchen hervorheben. Das sei ihr durch die Darstellung der empfindsamen Schönheit und überwirklichen Festlichkeit des Schneewittchens im Glassarg hervorragend gelungen, meint der Experte. "Bis heute verschlägt es einem die Sprache", sagt Dathe. Der Verlag reagierte damals schnell: Das Bild musste schon bald zurückgezogen und durch eine andere Darstellung ersetzt werden.

Original gut geschützt

Auf das besondere Exponat aufmerksam geworden sind inzwischen auch andere. So reiste das Lohrer Schneewittchen bereits nach Würzburg, wo es im Museum für Franken auf der Festung Marienberg zu sehen war. "Dazu wurde es versichert und von einem Fahrer abgeholt und zurückgebracht", berichtet Stenger. Tatsächlich ist das Original heute auch für das Schaufenster im Fischerhaus zu wertvoll. Die Sonneneinstrahlung könnte es beschädigen. Zu sehen ist hier deswegen eine großformatige, originalgetreue Reproduktion des Schulwandbildes von der Firma Gmedien GmbH in Lohr. Das Original befindet sich gut geschützt in der Sammlung des Lohrer Schulmuseums.

Ein Auge haben auf das Lohrer Schneewittchen noch andere geworfen: die Dathes. Das Ehepaar besitzt die wohl größte Sammlung reiner Märchen-Schulwandbilder. Diese sind im Brüder Grimm Haus in Steinau untergebracht. "Dieses Schneewittchen-Bild fehlt aber in unserer Sammlung. Wir haben es ja kein zweites Mal gefunden. Das schmerzt uns natürlich", sagt Dathe. Auch wenn die Sammlerfreunde schon so einige Schulwandbilder untereinander ausgetauscht haben: Schneewittchen wird in Lohr bleiben. "Da gehört es schließlich auch hin", sind sich die Sammlerfreunde einig.

 
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