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Lohr
Wie Rentier aus der Dose Behörden in Atem hielt
Der Lohrer Konservenhersteller Rudolf Englert beschäftigte vor 60 Jahren gefühlt die halbe Republik mit der Frage, ob Rentiere Wild oder Haustiere sind. Es ging um Zollfragen.
Wild oder Haustier? Dieses Rentier auf einer Weide in Niedersachsen schaut recht zutraulich aus und kann für weihnachtliche Veranstaltungen geliehen werden.
Foto: Swen Pförtner/dpa | Wild oder Haustier? Dieses Rentier auf einer Weide in Niedersachsen schaut recht zutraulich aus und kann für weihnachtliche Veranstaltungen geliehen werden.
Björn Kohlhepp
 |  aktualisiert: 03.12.2019 10:58 Uhr

Dass Rentiere heutzutage etwas mit Weihnachten zu tun haben, hat sich wohl herumgesprochen. Dass die nordische Hirschart auch mit Lohr in Verbindung gebracht wird, wohl nicht so. Das ist dem ehemaligen Chef von Feinkost Englert, Rudolf Englert, zu verdanken.

Ist das Rentier Wild oder ein Haustier? Mit dieser quizähnlichen Frage hat der Lohrer vor 60 Jahren das Bundesfinanzministerium, die Oberfinanzdirektion Nürnberg, zwei Zollämter, das Zoologische Institut der Universität Erlangen, mehrere Fachverbände, das finnische Landwirtschaftsministerium sowie den "Bund der Steuerzahler" und ein ganzes Dutzend von Professoren beschäftigt – und sogar den Deutschen Bundestag.

In einem launigen Artikel hat der Spiegel in seiner Ausgabe vom 2. April 1958 über den kuriosen Fall berichtet. Englert hatte damals Rentierfleischkonserven im Angebot. Die Oberfinanzdirektion Nürnberg wollte dem Lohrer klarmachen, das Rentier sei ein Haustier, dessen Fleisch – wie bei anderen Haustieren vorgeschrieben – nach Westdeutschland nur zu einem Zollsatz von 20 Prozent eingeführt werden darf. Wäre das Ren jedoch, wie Englert es unermüdlich nachzuweisen versuchte, Wild, dann würden nur zehn Prozent fällig.

Im März 1956 hatte Feinkost Englert, damals noch "Straßburger Gänseleberpasteten- und Feinkostkonservenfabrik" genannt, erstmals für gut 14 000 Mark Rentier-Gefrierfleisch aus Finnland importiert – mit einer Zollabgabe von zehn Prozent.

"Als Feinkostkonservenfabrik verarbeiten wir gern das Fleisch der Rentiere."
Rudolf Englert über die Einfuhr von Rentierfleisch

Im Januar 1957 wollte die Firma erneut Rentierfleisch einführen, denn "als Feinkostkonservenfabrik verarbeiten wir gern das Fleisch der Rentiere, auch hat dasselbe bei unseren Abnehmern sehr guten Anklang gefunden", wie Englert damals wissen ließ. Allerdings sollte er nun 20 Prozent Zoll zahlen.

Auf Nachfrage teilte ihm die Oberfinanzdirektion, nicht argumentationsfaul, mit, dass Rentiere keine wilden Tiere seien. Denn nach dem "Großen Brockhaus" von 1935 sei "Wild" die Gesamtbezeichnung für jagdbare Säugetiere und Vögel. Und "Brehms Tierleben" unterscheide zwischen wilden und zahmen Tieren. Das Fazit der Behörde: "Jagdbar sind nur die wilden Rentiere; ihre Jagd ist aber sehr beschwerlich und wird nur wenig ausgeübt. Zahme Rentiere dagegen werden in großen, frei lebenden Herden gehalten. Sie liefern vor allem Fleisch. Da sie bestimmten Personen gehören, sind sie nicht jagdbar und zählen deshalb auch nicht zum Wild."

Die Behörde unterstellte, dass "zumindest überwiegend Fleisch von zahmen Rentieren" eingeführt werde, zu verzollen mit 20 Prozent des Wertes. Nun sollte Englert obendrein noch nachträglich auf sein 1956 eingeführtes Rentierfleisch eine Zollabgabe von 20 Prozent zahlen.

Einschätzung aus Finnland: Rentiere sind keineswegs Haustiere

Was konnte Englert dieser zoologischen Fachkompetenz entgegensetzen? Erst als sämtliche Einspruchsfristen für die Beratung im Bundestag verstrichen waren, erhielt Englert eine Bescheinigung des finnischen Landwirtschaftsministeriums, in der es hieß, Rentiere seien keineswegs als Haustiere anzusehen, "da sie völlig frei leben und auch für ihre Ernährung selber Sorge tragen müssen". 

"Mit dieser kompetenten Darstellung aus der Heimat der Rentiere", wie der Spiegel schrieb, wandte sich Englert erneut an die Oberfinanzdirektion Nürnberg. Die Behörde teilte ihm daraufhin mit: "Es trifft zu, dass die zahmen Rentiere keine Haustiere im üblichen Sinne sind. In der Zollauskunft wurde deshalb auch nicht ausgeführt, dass sie zu den Haustieren zählen. Sie rechnen aber auch nicht zum Wild."

Zoologisches Institut der Uni Erlangen: Rentiere sind halbwild

Zur genauen Einordnung der Rentiere hatte die Oberfinanzdirektion das Zoologische Institut der Universität Erlangen zu Rate gezogen. Die Experten stuften die Rentiere als Tiere ein, die "als halbwilde Tiere gehalten werden". Für die Finanzbehörde waren sie demnach eine Zwischengattung von Wild und Haustier. Und auf Fleisch von Tieren, die zwischen Wild und Haustier rangieren, könne kein ermäßigter Zollsatz angewandt werden.

Nun wandte sich Englert – "über solche Unlogik empört" – ans Bundesfinanzministerium. Das Ministerium beauftragte die Oberfinanzdirektion Nürnberg, noch eingehendere Ermittlungen über die zolltarifliche Behandlung der Rentiere anzustellen.

Englert schaltete in der Streitfrage außerdem seinen Fachverband ein. Der "Bund Deutscher Wild- und Geflügel-Importeure e.V." schrieb der Oberfinanzdirektion, dass er Rentierfleisch als Wildfleisch zähle. Bislang sei Rentierfleisch immer mit dem Zollsatz für Wild verzollt worden. Im Übrigen seien Rentiere in der "systematischen Zusammenfassung veterinärpolizeilicher Abfertigungsvorschriften" unter Wild aufgezählt, und der Fachhandel betrachte Rentierfleisch als eine Art Ersatz für Hirschfleisch. Die Oberfinanzdirektion wurde gebeten, diese Stellungnahme der Importeure auch als Auffassung des "Eier-, Wild-, Geflügel- und Honig-Großhandels" anzusehen.

Nach zig Gutachten blieb Englert Sieger

Als Ende 1957 die neuen Zolltarifbestimmungen im Bundestag verabschiedet wurden, wurden Rentiere tatsächlich nicht als  Wild, sondern als Haustiere genannt. Englert, nicht müde, hatte sich jedoch in der Zwischenzeit  gleich sieben Rechts- und Wissenschaftsgutachten anfertigen lassen, die allesamt das Rentier als Wild bezeichneten, was er dem Bundesfinanzministerium bekanntgab. Inzwischen war das Ministerium aufgrund eigener beauftragter Gutachten ebenfalls zu dem Schluss gekommen, dass Rentiere wohl doch als Wild anzusehen sind.

Für die Beratung der neuen Zolltarifbestimmungen kamen diese Erkenntnisse zu spät. Aber mit Schreiben vom 7. Januar 1958 beruhigte das Bundesfinanzministerium den Feinkostkonservenhersteller: Das Ministerium werde sich bemühen, dass sich der Bundestag mit der Rentier-Frage nochmals befasst. Und tatsächlich setzten die Abgeordneten noch im selben Jahr den Zollsatz auf zehn Prozent, dem für Wild, fest. Englert hatte gewonnen.

Sein Sohn Ulrich, Jahrgang 1955, der heute Feinkost Englert führt, weiß nur von Erzählungen, dass die Firma früher einmal Rentierfleisch im Angebot hatte – "nicht lange, höchstens ein paar Jahre". Dass die Frage einmal so hohe Wellen schlug, war ihm neu. Aber irgendwie, so Englert, passe die Geschichte ja zur Zeit vor Weihnachten, wo Rentiere, insbesondere das mit der roten Nase, heute eine gewisse Rolle spielen.

 
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