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Marktheidenfeld
Wie Marvin Herrmann ein Leben rettete
Anfang Dezember spendete der Marktheidenfelder (Lkr. Main-Spessart) Stammzellen, um damit eine Blutkrebs-Patientin zu heilen. Es war einfacher, als er dachte.
Im Nürnberger Krankenhaus spendete Marvin Herrmann Anfang Dezember Stammzellen. 
Foto: Lena Kaufmann | Im Nürnberger Krankenhaus spendete Marvin Herrmann Anfang Dezember Stammzellen. 
Rebecca Wolfer
Rebecca Wolfer
 |  aktualisiert: 15.07.2024 08:56 Uhr

Frühjahr 2016

"20 Minuten keine Schule und ich kann vielleicht etwas Gutes tun", denkt Marvin Herrmann, als er sich bei der DKMS, der größten Stammzellen-Spenderdatei in Deutschland, registrieren lässt. Die Organisation besucht gerade seine Berufsschule, die Franz-Oberthür-Schule in Würzburg.  Mit einem Wattestäbchen muss er einen Abstrich von seiner Mundschleimhaut machen. Im Labor werden dann seine Gewebemerkmale analysiert und in eine Datenbank eingetragen.  

  • So geht's: Mit einer Stammzellspende Leben retten

Wenn ein Blutkrebs-Patient für seine Therapie eine Stammzellenspende braucht, werden weltweit alle Datenbanken nach seinem sogenannten "genetischen Zwilling" durchsucht. Das ist jemand, der exakt die gleichen Gewebemerkmale wie der Patient hat und durch die Übertragung seiner gesunden Stammzellen ein Leben retten kann. Dieses Jahr haben in Deutschland über 5080 Menschen gespendet. Marvin wird einer davon sein, aber das weiß er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Er geht wieder zurück in den Klassenraum.

Ende September 2018

Marvin wird von seiner Mutter angerufen. Jemand von der DKMS habe auf ihren Anrufbeantworter gesprochen, sie hätten wahrscheinlich seinen genetischen Zwilling gefunden: Eine Frau aus Russland, die Blutkrebs hat. Ihre normale Blutbildung ist durch die unkontrollierte Vermehrung von bösartigen Zellen gestört, das Blut kann seine lebensnotwendigen Aufgaben nicht mehr erfüllen. Allein in Deutschland wird alle 15 Minuten Blutkrebs bei einem Menschen diagnostiziert, sagt Silke Müller von der DKMS. Die Krankheit kann oft nur mit gesunden Stammzellen besiegt werden, die dann das Immunsystem des Patienten neu bilden.

Marvins Gewebemerkmale und die der Patientin stimmen genau überein. Er kann ihr helfen, indem ein Teil seiner gesunden Stammzellen auf sie übertragen wird. "Meine Mutter meinte, dass ich noch einmal darüber nachdenken soll, aber für mich war eigentlich sofort klar: Ich mache das; sonst hätte ich mich ja nicht registriert", sagt der 20-Jährige. 

Er ruft zurück und sagt, dass er grundsätzlich zur Spende bereit sei. Gleich am nächsten Tag bekommt er ein Blutentnahmeset per Post geschickt. "Damit ging ich sofort zum Hausarzt", sagt Marvin, "das Blut wurde in die Klinik nach Nürnberg geschickt und auf Infektionserreger untersucht." 

Mitte November

Der Apherese-Apparat, der die Stammzellen aus dem Blut filtert.
Foto: Lena Kaufmann | Der Apherese-Apparat, der die Stammzellen aus dem Blut filtert.

Marvin muss zur Voruntersuchung nach Nürnberg. Dort wird geprüft, ob er wirklich gesund und zur Spende geeignet ist: Belastungs-EKG, Blutentnahme, um noch einmal zu testen, ob er Infektionskrankheiten hat, Ultraschall von Niere, Leber und Galle. Außerdem wird ihm der Raum gezeigt, in dem seine Spende stattfinden wird. Bei Marvin wird die "Periphere Stammzellenentnahme" durchgeführt, bei der die Stammzellen aus dem Blut herausgefiltert werden. Dieses Verfahren wird bei 80 Prozent der Spender durchgeführt, erklärt Silke Müller. 20 Prozent spenden durch die Knochenmarkspende, bei der unter Vollnarkose aus dem Beckenkamm Knochenmark entnommen wird. "Das Ergebnis ist das gleiche, der Arzt entscheidet je nach Gesundheitszustand des Patienten und seiner persönlichen Erfahrung, welche Art der Entnahme die beste ist", sagt sie. 

Bei der Knochenmarkspende bestehe das übliche Narkose-Risiko, außerdem könnten Spender ein paar Tage Wundschmerz haben. Bei der peripheren Spende könne es sein, dass die Spender danach grippeähnliche Symptome, also Kopf- und Gliederschmerzen haben. "Langfristige Schäden gibt es bei der Stammzellenspende nicht", sagt Müller.

In Nürnberg erklärt der Arzt Marvin außerdem, dass er sich selbst Spritzen mit dem Wachstumsfaktor G-CSF geben muss. Der sorgt dafür, dass sich die Stammzellen im Blut vermehren und ausgeschwemmt werden. 

Anfang Dezember

Obwohl seine Spende immer näher rückt, muss sich Marvin auf eine andere Sache konzentrieren: Seine Abschlussprüfung. Er macht eine Ausbildung zum Technischen Produktdesigner bei der Firma Brand in Wertheim. "Eigentlich sollte meine Spende in der Zeit vor der Prüfung stattfinden", sagt Herrmann. "Zum Glück konnte sie zwei Wochen nach hinten verschoben werden, ich wusste ja nicht, ob ich danach gesund genug zum Lernen bin." 

Anfang Dezember, vier Tage vor der Spende

Marvins Prüfung lief gut, die Spende rückt näher. Er muss damit beginnen, sich die Spritzen zu geben – und hat Angst, dass es unangenehm werden könnte. "Als Kind hatte ich total Angst vor Spritzen - Impfen war der Horror", sagt er. Bei seiner ersten Spritze, morgens im Besprechungszimmer auf der Arbeit, ist eine Kollegin mit dabei. Er spritzt sich den Stoff in den Bauch. Es ist einfacher als gedacht: "Ich konnte selbst bestimmen, wann und wie schnell ich es mache", erklärt er. "Deshalb war es in Ordnung – es wäre schlimmer gewesen, wenn es ein anderer getan hätte." Neun Spritzen waren es insgesamt: Jeweils zwei pro Tag, am Tag der Spende morgens noch eine.

Parallel wird bei der Empfängerin das Immunsystem mit Chemotherapie und gegebenenfalls einer Ganzkörperbestrahlung heruntergefahren. Dadurch werden die Krebszellen zerstört, Marvins Stammzellen bilden dann ein neues Immunsystem.  Würde er in diesem Zeitraum die Spende absagen und es könnte kein Ersatzspender gefunden werden, würde die Empfängerin sterben.

  • Lesen Sie auch: Kann Geld zur Blutspende bewegen?

Den genauen Tag der Spende darf Marvin nicht verraten, weil die Empfängerin dann nachvollziehen könnte, wer ihr Spender ist. Eine Kontaktaufnahme nach der Spende ist nur möglich, wenn beide Beteiligten das wollen. In Deutschland dürfen sich beide zuerst anonym kontaktieren und nach zwei Jahren ihre Daten austauschen. In manchen Ländern, zum Beispiel Belgien oder Brasilien, ist ein Kontakt wegen der hohen psychischen Belastung verboten. Marvin würde sich freuen, wenn die Empfängerin Kontakt zu ihm aufnehmen möchte. Aber selbst wenn sie das nicht möchte, wird er von dem russischen Krankenhaus in den ersten Monaten regelmäßig anonymisiert über ihren Gesundheitszustand informiert.  

Am Tag der Spende

Die DKMS zahlt Marvin die Anfahrt und die Übernachtung in Nürnberg, außerdem Geld an den Arbeitgeber für die Tage, an denen er nicht arbeiten kann. Um acht Uhr morgens werden er und eine Freundin von ihm vom Hotel abgeholt und ins Krankenhaus gefahren. Dort wird sein Blut noch einmal auf Infektionen untersucht.

Dann beginnt die Spende: Marvin wird an den sogenannten Apherese-Apparat angeschlossen, eine Kanüle im linken und eine im rechten Arm. "Ich dachte am Anfang, dass das ganz furchtbar ist, wenn ich mit zwei Nadeln im Arm auf dem Stuhl sitze", sagt Marvin, "aber es war ganz entspannt. Der Einstich tat zwar weh, aber ich habe nicht gespürt, dass das Blut durch die Schläuche läuft." Aus dem linken Arm läuft das Blut in den Apparat, dort trennt ein sogenannter Zellseparator die Stammzellen vom Blut. Danach läuft es über den rechten Arm wieder in Marvins Körper. Drei Stunden dauert die Entnahme bei ihm, je nach benötigter Menge der Stammzellen kann es bei anderen Personen auch länger dauern. "Das Rumliegen war ziemlich langweilig", gibt er zu, "zum Glück hatte ich meine Freundin dabei, mit der ich mich unterhalten konnte." 

Nach der Spende

Nach drei Stunden ist ein Beutel mit rund einem Liter Zellen-Plasma-Gemisch gefüllt. Dann wird noch einmal überprüft, ob genug Stammzellen in dem Präparat vorhanden sind, bevor es schnell zur Empfängerin nach Russland transportiert wird. Marvin geht es gut, er spürt keine Nebenwirkungen. Bei einer Nachuntersuchung in einigen Wochen wird er abschließend noch einmal untersucht werden.

Er würde auf jeden Fall noch einmal spenden und versucht, momentan möglichst viele Menschen auf das Thema Stammzellenspende aufmerksam zu machen: "Mir ist es wichtig, dass sich noch mehr Menschen registrieren lassen", sagt Marvin. In Deutschland gibt es laut dem Zentralen Knochenmarkspender-Register Deutschland momentan rund 8,3 Millionen Registrierte. "Für den Spender ist es nur ein kleiner Aufwand, seine Stammzellen wachsen ja auch wieder nach – aber er kann einem anderen Menschen das Leben retten." 

So können Sie sich als Stammzellenspender registrieren
Um sich für die Stammzellenspende registrieren zu lassen, sollten Sie zwischen 18 und 55 Jahre alt und gesund sein. Auf www.dkms.de können Sie ein Registrierungs-Set mit Wattestäbchen anfordern, zuhause den Wangenabstrich machen und das Stäbchen zur Analyse wieder zurück schicken. Oder Sie besuchen eine von der DKMS oder einer andere Spenderdatei veranstalteten Typisierungsaktion in Betrieben oder Schulen. Sie können sich auch beim "Netzwerk Hoffnung" im Universitätsklinikum Würzburg registrieren lassen: am Institut für Klinische Transfusionsmedizin und Hämotherapie, Oberdürrbacher Straße 6 (Haus A3, Ebene -3, Zimmer 812), Tel: 0931 20131325.
 
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Kommentare
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  • hartmut
    Sehr vorbildlich von dir Marvin. Ein Vorbild für uns alle. Viele Grüße
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