zurück
WIESENFELD
Wie ein Trapper aus Karl Mays Büchern
Haus mit Abenteuerflair: Das Elternhaus der Schwestern
Foto: Repro: Edwin Tripp | Haus mit Abenteuerflair: Das Elternhaus der Schwestern
Björn Kohlhepp
 |  aktualisiert: 07.01.2016 14:54 Uhr

Vor 50 Jahren feierte eine Wiesenfelder Legende ihren 85. Geburtstag, im Jahr darauf starb sie: Maria Prochus, die jüngere der beiden sagenumwobenen Prochus-Schwestern. Maria, genannt „Mari“, Jahrgang 1878, war 1963 die wahrscheinlich älteste aktive Jägerin Deutschlands. 150 Jahre ist es zudem her, dass ihre ältere Schwester Mathilde Prochus, genannt „Thild“ und womöglich noch legendärer als ihre Schwester, geboren wurde. Viele Geschichten ranken sich um die beiden etwas sonderbaren Mannweiber, die in einem heruntergekommen Häuschen an der Ecke Büttnergasse/Erlenbacher Straße lebten.

„Die Thild“ soll furchtbar stark und gerissen gewesen sein, soll sogar angeblich verkleidet als Mann in den Ersten Weltkrieg gezogen sein. 20 bis 30 Kanarienvögel haben bei ihr bisweilen gehaust, Passanten mussten sich in Acht nehmen vor dem Inhalt ihres Nachttopfs. 1903 wurde sie wegen Beleidigung des deutschen Kaiserpaares zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe verurteilt.

Noch im Gerichtssaal soll sie den Kaiser als „Lump“ bezeichnet haben. In einem Dokument von 1936 in der Wiesenfelder Kirchenkuppel, das zeigt, wie mutig sie war, schreibt sie über hitlertreue Lehrer: „Gott möge solche Menschen aus unserer Gemeinde entfernen.“ Es stehe im ganzen Reich schlecht, alle seien jetzt „Mussgenossen“.

Sonntags- und Werktagsgebiss

Von „der Mari“, die angeblich Schuhgröße 47 oder 48 hatte, gibt es die lustige Geschichte von ihrem Gebiss, das eines Tages weg war, woraufhin sie zur Nachbarin ging und sich das von deren verstorbenem Mann Josef holte und es sich einsetzte. „Bassd ausgezeichnet!“, soll sie gesagt haben. Als ihr eigenes in einem Rattenloch wieder auftauchte, sagte sie angeblich: „Edz haow i zwä. Enns für Sunndi, enns für Wergedi.“

Kürzlich habe ich einen 50 Jahre alten Artikel aus dem Fränkischen Volksblatt zum 85. Geburtstag von Maria Prochus entdeckt. Am 26. April 1963 erschien der Artikel mit der Überschrift „Mit 85 als Jägerin noch auf der Pirsch“ und einem Bild, das sie vor ihrem Bienenstand mit ihrer Drahthaarhündin Cora, langem Mantel, hohen Stiefeln, einer Zigarette im Mundwinkel und lässig einem Drilling, einer Jagdwaffe mit drei Läufen, unterm Arm zeigt. Wie ein Flintenweib aus dem Wilden Westen.

„Wir hatten Glück, Maria Prochus war daheim und nicht, wie oft bei schönem Wetter, draußen in ihrem geliebten Wald.“ So beginnt der Artikel. „Seit Kindsbeinen ist der Wald ihr eigentliches ,Zuhause‘ und Tiere sind ihre liebsten Gefährten. Wer Maria Prochus mit dem Drahthaar Cora, dem Drilling unterm Arm, auf der Pirsch begegnet, meint einem Trapper aus Karl Mays Büchern gegenüberzustehen, der wettergebräunt und zäh seine 65 Jahre auf dem ,Buckel‘ hat. Maria Prochus aber vollendete gerade ihr 85. Lebensjahr. Sie ist damit wohl die älteste aktive Jägerin in Bayern, wenn nicht überhaupt.“

Mit Zwölf den ersten Bock erlegt

„Bereits mit sechs Jahren nahm sie der Vater, Jagdverwalter in dem rund 5000 Hektar großen Revier der Freiherren von Hutten, Steinbach, mit auf die Jagd. Mit zwölf Jahren schoß sie ihren ersten Bock. Die Jagdleidenschaft und die Liebe zu allem was da kreucht und fleucht ließ sie seither nicht mehr los. Die Wälder um Königshofen im Grabfeld, wo ihr Bruder als Pfarrer wirkte, durchstreifte sie als junges Mädchen ebenso wie den Odenwald und Spessart.“

Der Verfasser des Volksblattartikels schreibt, dass sie Geweihe von Rehböcken an den Wänden „ihrer Behausung“ – ob er Haus oder Wohnung nicht schreiben wollte? – hatte, außerdem das Geweih eines Eissprossenzehners, „des einzigen Hirsches, den Maria Prochus erlegen durfte“. Ein Dompfaff sorgte im Haus für Musik.

Die vom Jagdverband mit der silbernen Ehrennadel ausgezeichnete Jubilarin betreue mit ihren 85 Jahren noch immer ihr 500 Hektar großes Revier in Wiesenfeld, „das sie zusammen mit einem Frankfurter Waidgenossen gepachtet hat“. Ihre 40 Bienenvölker bessern ihre „kleine Rente“ auf, „denn ihr Vermögen schmolz bei der Währungsreform stark zusammen“, wie es heißt. Prochus las gerne, vor allem Jagdbücher, auch wissenschaftliche Werke. „Von Liebesromanen hält sie nichts, aber an Karl Mays Reiseerzählungen begeistert sie sich wie ein Junge.“

Eine Nacht im US-Gewahrsam

Lachend erzählte sie dem Reporter damals ein in Wiesenfeld noch gut bekanntes Nachkriegserlebnis: „Es war 1948“ – in einem Main-Post-Artikel von 1952 hieß es noch 1947 – „aber kein Tag verging ohne Waldgang. Einmal saß sie wieder auf ihrem Hochstand, als sich ein stattlicher Mann näherte. Flugs sprang sie die vier Meter auf den Waldboden und quer durch die Büsche gab sie Fersengeld. Der Mann war der neue US-Captain, der einen Wilderer vermutete und alle Jäger zur Identifizierung nach Karlstadt bestellte. Freiwillig meldete sich Maria Prochus, verbrachte eine Nacht bei guter Verpflegung im US-Quartier und wurde dann in Gnaden entlassen.“

Als Geburtstagsgeschenk wünschte sich die „jugendliche 85erin“ nichts Schöneres „als noch einige kapitale Böcke vor die Flinte“. „Die Mari“ starb eineinhalb Jahre später und wurde an Silvester 1964 mit waidmännischen Ehren begraben. Ihre 15 Jahre ältere Schwester, die zu Lebzeiten schon Legendenstatus hatte, war da bereits zehn Jahre tot.

So kannte man Maria Prochus: Die Jägerin in den 1950ern auf dem Weg Weg zur Jagd, im Hintergrund der Wiesenfelder Götzberg.
Foto: Repro: Edwin Tripp | So kannte man Maria Prochus: Die Jägerin in den 1950ern auf dem Weg Weg zur Jagd, im Hintergrund der Wiesenfelder Götzberg.
Die legendäre Mathilde: ein Foto von Fronleichnam 1953.
Foto: Repro: H. Wolf | Die legendäre Mathilde: ein Foto von Fronleichnam 1953.
 
Themen & Autoren / Autorinnen
Björn Kohlhepp
Jagdwaffen
Kanarienvögel
Liebesromane
Reiseerzählungen
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen
Kommentare
Aktuellste
Älteste
Top